Geschichte der „Agency“

Tim Weiner hat ein umfassendes Werk über den US-amerikanischen Geheimdienst vorgelegt. Die passende Lektüre zum 11. 9., auch wenn die Kritik der Behörde helfen soll

VON WOLFGANG GAST

Morgen um Morgen saßen sie um 8 Uhr früh im Weißen Haus zur Lagebesprechung zusammen, der Präsident der USA, sein Stellvertreter Richard „Dick“ Cheney, die damalige nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und CIA-Chef George Tenet. In den Monaten vor dem 11. September berichtete der Geheimdienstchef immer wieder über Anzeichen eines geheimen Plans von al-Qaida, die USA anzugreifen. Doch Bush, schreibt der Pulitzerpreisträger Tim Weiner, „interessierte sich für anderes – für Rakentenabwehr, Mexiko, den Nahen und Mittleren Osten. Er hatte nicht das Gefühl, dass die Sache dringlich war“. Bush irrte sich gründlich.

Weiners Werk ist ein Buch der Superlative, in der die Beratungsresistenz des US-Präsidenten beschrieben wird. 20 Jahre Recherche, 50.000 gesichtete Dokumente und hunderte von Interviews mit Menschen, die gewöhnlich nicht zu sprechen sind: Mitarbeiter von Geheimdiensten, Exagenten, Insider und mit den Nachrichtendiensten befasste Politiker oder Diplomaten. Tim Weiners „CIA. Die ganze Geschichte“, das im vergangenen Jahr in den USA veröffentlicht und im Frühjahr ins Deutsche übersetzt wurde, ist die passende Lektüre zum 11. 9. In den Vereinigten Staaten wurde das Buch zu Recht mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet.

Von der Gründung der CIA 1947 im gerade aufflammenden Kalten Krieg bis zur Manipulation des UN-Sicherheitsrates am 5. Februar 2003, als US-Außenminister Colin Powell, gestützt auf angebliche Belege der CIA, den Irak beschuldigte, über Waffen zur Massenvernichtung zu verfügen – Tim Weiner wirft einen zuverlässigen Blick hinter die Kulissen des sagenumwobenen Geheimdienstes. Er durchleuchtet kriminelle Geheimdienstoperationen, benennt die politischen Strippenzieher, die hinter den Skandalen des Geheimdienstes stehen. Einen großen Raum nimmt auch das jeweilige Verhältnis des amtierenden US-Präsidenten zum Geheimdienst ein (George Bush sen. war demnach der Einzige, der die Fähigkeiten und Grenzen der CIA einschätzen konnte, weil er elf Monate lang die CIA leitete).

Weiner nimmt für sich in Anspruch, auch alles akkurat belegen zu können. „Keine anonymen Quellen, keine Zitate ohne Nachweis, keine bloßen Gerüchte“, schreibt der zweifache Pulitzerpreisträger und Mitarbeiter der New York Times. Sein Buch enthalte die erste Geschichte der CIA, die sich durchweg auf Informationen aus erster Hand und Primärdokumente stützt. Im Bereich der Geheimdienste ist allein das schon eine kleine Sensation.

Das Bild, das Weiner von der Central Intelligence Agency sechzig Jahre nach ihrer Gründung zeichnet, wirkt reichlich desaströs. Die CIA sei gegründet worden, um ein zweites Pearl Harbor, also einen weiteren Überfall auf die Vereinigten Staaten, zu verhindern. Es dominierte der Kalte Krieg, und der Kampf um die Hegemonie wie etwa in Südamerika oder in Afghanistan beherrschte die Arbeit der Geheimdienstler. Mit dem Fall der Mauer, schreibt Weiner, ging dann mehr oder weniger der kleinste gemeinsame Nenner verloren, der die Beamten in der CIA verband: der Kampf gegen den Kommunismus. Ende des letzten Jahrhunderts sei die Agency schließlich kein voll funktionsfähiger und unabhängiger Nachrichtendienst mehr gewesen, der den Präsidenten zureichend mit neutralen Informationen und Analysen hätte versorgen können. Die CIA war nicht in der Lage, ein zweites Pearl Harbor zu verhindern. In der Geheimdienstzentrale wurden Hinweise auf Vorbereitungen zu den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht ernst genommen. Weiner: „Wir stehen wieder dort, wo wir vor sechzig Jahren begonnen haben: an einem Punkt allgemeiner Auflösung. Die Aufgabe, die Welt zu begreifen, wie sie ist, hat drei Generationen von CIA-Beamten überfordert.“

Alles Schwarzmalerei, behauptet der in Langley im US-Bundesstaat Virginia ansässige Geheimdienst, der über einen Jahresetat von mehr als 41 Milliarden US-Dollar verfügt und der die Anzahl seiner Mitarbeiter heute noch geheim hält. „Selektive Auswertungen, pauschale Behauptungen und ein Fasziniertsein vom Negativen, Weiner übertreibt, vernachlässigt und verdreht die Erfolge der Behörde.“ Mehr Werbung konnte die CIA mit der Veröffentlichung ihres Statements für Weiners Buch kaum betreiben. Dabei ist die Aufregung in der CIA nicht so richtig nachvollziehbar.

Weiner erhellt zwar einige weitere dunkle Facetten in der schattenreichen Geschichte der Agency, wirklich neue Skandale, ein neues Watergate oder eine Contra-Affäre kann aber auch er nicht aufdecken. Literatur zur CIA und ihren politischen Verstrickungen ist schließlich reichlich vorhanden.

Weiner will mit seinem Buch aufrütteln und warnen. Die Frage, ob ein Geheimdienst wie die CIA überhaupt in eine freiheitliche Gesellschaft passt, diskutiert er allenfalls am Rande. Über die jüngsten CIA-Skandale, die Verschleppung mutmaßlicher Terrorverdächtiger zur Folterung in autoritäre Regime, die in mehreren Staaten Westeuropas die Staatsanwaltschaften und Untersuchungsausschüsse beschäftigen, wird nicht berichtet.

Dass diese sogenannten renditions (Überstellungen) in „CIA. Die ganze Geschichte“ nicht vorkommen, liegt nicht daran, dass Weiner sie verschweigen oder gar tolerieren wollte. Weiner nimmt anderes in den Fokus. Er hat sich explizit auf die Seite der Krieger in diesem „Krieg gegen den internationalen Terrorismus“ gestellt. Wie wenig Distanz Tim Weiner in dieser Frage zum Gegenstand seines Buchs hat, lässt sich in seinem Schlusswort lesen, wenn er schreibt: „Vielleicht wird die CIA eines Tages den Dienst leisten können, den ihre Gründer im Sinn hatten. Wir müssen darauf bauen. Denn der Krieg, in den wir nun verwickelt sind, könnte ebenso lange dauern wie der Kalte Krieg, und es hängt von der Qualität unserer Nachrichtendienste ab, ob wir ihn gewinnen oder verlieren.“ Eine Dramatisierung, die von George W. Bush stammen könnte.

Tim Weiner: „CIA. Die ganze Geschichte“. Aus dem Amerikanischen von Monika Noll, Elke und Ulrich Enderwitz, Rolf Schubert. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008, 850 Seiten, 22,90 Euro