Aus der Sicht Südamerikas

Auch ein Stück US-Geschichte: der 11. 9. in Chile vor 35 Jahren und die Folgen bis heute

Am 11. 9.1973 putschten die Militärs in Chile. Die Diktatur war ein Produkt US-amerikanischer Außenpolitik und innenpolitischer Zuspitzung in Südamerika. Zu Zeiten des Kalten Kriegs sollte nach westlicher Doktrin kein weiteres Land in die Einflusssphäre des Sowjetblocks rutschen. Der 1970 ins Präsidentenamt gewählte Arzt Salvador Allende betrieb in Chile unverhohlen eine Sozialisierung der Ressourcen des Landes.

Damit hatte er praktisch die gesamte weiße Mittel- und Oberschicht gegen sich. Am Mittag des 11. September bombardierten Kampfjets der chilenischen Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda in Santiagos Innenstadt. Allende und ein Häuflein Zivilisten leisteten bewaffneten Widerstand. In der Niederlage verübte der Präsident Selbstmord, viele seiner Mitstreiter wurden von den Putschisten füsiliert. Nobelpreisträger wie Henry Kissinger waren unmittelbar an dem Militärkomplott gegen Allende beteiligt. Sie wurden dafür nie zur Rechenschschaft gezogen.

General Augusto Pinochet blieb bis 1990 an der Macht, und die Rückkehr zur Demokratie in Chile ist bis heute kein abgeschlossener Prozess. Der greise Diktator verstarb zwar 2006, die Wahrheit über das Regime Pinochets spaltet die Gesellschaft aber immer noch. Das demokratische Bündnis aus Christ-, Frei- und Sozialdemokraten hat seit 1990 alle Wahlen gewonnen, jedoch immer nur mit hauchdünnem Vorsprung vor den Ex-Pinochet-Parteien. Auch wenn die chilenische Rechte mit dem zeitlich größer werdenden Abstand zur Diktatur ideologisch flexibler geworden ist, nimmt sie bis heute für sich positiv in Anspruch, Pinochet habe damals den Andenstaat vor Chaos und Marxismus gerettet. Erste Verurteilungen wie die des früheren Chefs des Geheimdienstes Dina kratzen allerdings an diesem Bild.

Wenig Interpretationsspielraum über den Charakter des Regimes lässt der nun auch auf Deutsch erschienene „Abschlußbericht der Nationalen Kommission zur Untersuchung von politischer Haft und Folter“ mit dem Titel „Es gibt kein Morgen ohne Gestern“. Die noch von Präsident Ricardo Lagos eingesetzte staatliche Untersuchungskommission konnte im November 2004 die Fälle von über 28.000 gefolterten, 2.095 ermordeten und 1.102 verschwundenen Menschen dokumentieren. Bei vielen der „Verschwundenen“ ist davon auszugehen, dass sie von den Sicherheitskräften des Regimes über dem Pazifik abgeschmissen oder ihre Leichen an geheimen Orten in der Atacama-Wüste verscharrt wurden. Viele Opfer der chilenischen Diktatur waren 17 bis 24 Jahre alt und starben in den ersten Tagen des Putsches. Pinochets christliche Militärs ließen Frauen von dafür extra abgerichteten Schäferhunden vergewaltigen.

Etwa eine Million ChilenInnen flüchtete vor dem Folterregime ins Ausland. Noch am Grab des Diktators ließen die Familie und ihre Anhänger 2006 keinerlei Reue erkennen. Das Militär flaggte zu Ehren ihres früheren Oberbefehlshabers auf halbmast. Die jetzige Präsidentin, Frau Bachelet, selbst ein Folteropfer, blieb der Beerdigungszeremonie allerdings fern.

Sämtliche Waffengattungen, die Dienste sowie die Polizei waren an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Chile beteiligt. Wer zweifelt, wozu ein von den führenden westlichen Staaten gestütztes staatsterroristisches Regime fähig ist, dem sei die Lektüre dieses Buchs zur Vergangenheitsbewältigung in Chile dringend empfohlen.

Von den verdeckten Operationen gegen den (demokratischen) Sozialismus in Südamerika führt eine direkte Linie zum Kampf der CIA gegen die Sowjets in Afghanistan und zu den heutigen Auseinandersetzungen nach dem US-amerikanischen 9/11. Das adelt keineswegs die totalitären Feinde westlicher Demokratien auf der rechten Seite, macht aber die Sache mit den „humanitären Interventionen“ so schwierig. ANDREAS FANIZADEH

Nationale Kommission zur Untersuchung von politischer Haft und Folter (Hg.): „Es gibt kein Morgen ohne Gestern. Vergangenheitsbewältigung in Chile“. Hamburger Edition, Hamburg 2008, 424 Seiten, 35 Euro