Deutsche waren sie alle

Der Historiker Moshe Zimmermann legt mit seinem neuen Buch eine zusammenhängende Darstellung des Schicksals der deutschen Juden zwischen 1938 und 1945 vor

VON ANDREJ REISIN

Am 30. September 1941 vertraute der deutsche Jude Willy Cohn seinem Tagebuch an: „Ich bin mit meinen Nervenreserven sehr zu Ende, und dabei müsste man jetzt in Hinblick auf das, was bevorsteht, große Reserven haben. Ich glaube, daß wir auch den Weg zu gehen haben werden, den so viele gehen mußten. Die Hauptsache ist, daß man das mit Würde tut und sich nicht aus der Fassung bringen lässt.“ Ein knappes Jahr später, im August 1942, als längst die Deportationszüge in Richtung der Vernichtungslager rollten, hatte das Reichssicherheitshauptamt der SS andere Sorgen: Man sorgte per Verordnung dafür, dass es den noch verbliebenen Juden fortan nicht mehr erlaubt war, Speiseeis zu kaufen.

Von solchen und vielen anderen erschütternden und kaum glaublichen Episoden aus dem vermeintlich letzten Kapitel der Geschichte der deutschen Juden berichtet im nüchternen Tonfall das Buch „Deutsche gegen Deutsche“ von Moshe Zimmermann, Sohn von aus Deutschland vertriebenen Juden und Direktor des Zentrums für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Der Autor möchte damit eine aus seiner Sicht eklatante Forschungslücke schließen, die darin bestehe, dass bis heute zur Geschichte der deutschen Juden zwischen 1938 und 1945 keine zusammenfassende Monografie vorliege.

Gleich zu Beginn führt er seinen LeserInnen deutlich vor Augen, wie sehr Teile der Forschung, aber vor allem die Öffentlichkeit bis heute sprachlich und mental in der antisemitischen NS-Propaganda be- und gefangen sind und sich ungewollt ihrer Kategorien bedienen bzw. sich diesen unterwerfen. Dies fängt bereits beim Titel des Buches an, der nicht umsonst „Deutsche gegen Deutsche“ lautet: „Man darf nicht vergessen, dass es nach 1933 und auch nach 1938 ausschließlich aus der Sicht von Antisemiten bei der Beziehung zu deutschen Juden um eine Konfrontation zwischen Deutschen und Juden ging und nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Deutschen“, so Zimmermann.

Dem widerspreche nicht, dass es selbstverständlich auch vor der Machtübernahme in Deutschland orthodoxe Juden, Zionisten, deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und viele andere Formen jüdischen Selbstverständnisses gab. Aber die Unterscheidung in „Juden“ und „Deutsche“ im Sinne von zwei voneinander abgrenzbaren Gruppen war, ist und bleibt ohne den NS-Rassenwahn schlechterdings undenkbar. Deshalb ist es nach Zimmermann verfänglich, wenn man von „Deutschen und Juden“ spricht und somit einen Gegensatz oder doch wenigstens einen Unterschied zwischen Menschen sprachlich aufrechterhält, der zuerst und vor allem von den Nazis konstruiert und mit den bekanntermaßen mörderischen Konsequenzen verfolgt wurde. Zimmermann gelingt es, detailliert und aufschlussreich darzustellen, wie vielfältig und untrennbar Deutschsein und Jüdischsein miteinander verwoben waren und in welchem, im Rückblick oft tragischen Ausmaß die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden sich als Trägerinnen und Träger deutschen Wesens und deutscher Kultur verstanden.

Das Buch gelangt anhand einer Synthese von Zeitzeugenberichten, NS-Akten, SD-Berichten, Ton- und Filmmaterial und bestehender Forschungsliteratur zu einer Form von „dichter Beschreibung“ der Lebensumstände der deutschen Juden in den dunkelsten Jahren der Geschichte ihrer Existenz. Darin enthalten sind unzählige Einzelschicksale, die auf ihre je eigene Weise von Hoffnung, Verzweiflung, Mut, Verrat, Demütigung, Menschenwürde, Unmenschlichkeit und vereinzeltem Heroismus erzählen. Am Ende handeln sie jedoch alle von der „radikalsten Bankrotterklärung der Menschheit“, was freilich „im Voraus niemand wirklich wissen“ konnte, und darauf kommt es gerade in Bezug auf die deutschen Juden nicht unwesentlich an.

In diesem Zusammenhang versucht Moshe Zimmermann ein weiteres Mal, das bodenlose Vorurteil auszuräumen, wonach die deutschen Juden widerstandslos zur Schlachtbank der Henker gegangen seien. Zwar ist diese Vorstellung, die den Opfern noch nachträglich ihr „Versagen“ vorwirft, längst widerlegt und ihre psychologische Entlastungsfunktion gut belegt, aber dennoch bis heute verbreitet.

Der Autor argumentiert dagegen auf zwei Ebenen: Zum einen macht er deutlich, wie absurd die These ist, ausgerechnet die gesellschaftlich zunehmend absolut isolierten und unter unvorstellbarem Verfolgungsdruck stehenden Juden hätten in ihrem buchstäblichen Überlebenskampf auch noch den Widerstand gegen das NS-Regime organisieren sollen, zu dem ja auch die deutsche Mehrheitsbevölkerung bis auf Ausnahmen kaum fähig oder willens war. Zum anderen beschreibt er auf sehr eindrückliche Art und Weise, dass gerade die Würde, mit der Opfer wie Willy Cohn ihrem Schicksal entgegentraten, einen ultimativen Akt des Widerstandes gegen die entmenschlichte Barbarei der Täter darstellte.

Das unschätzbare Verdienst des Buches besteht darin, auf knapp 300 gut lesbaren Seiten die Tragödie der deutschen Juden anschaulich und einfühlend darzustellen. Auch über die Widersprüche, Abgründe und Absurditäten der mit der Verfolgung und Ermordung beschäftigten NS-Institutionen und ihren zahlreichen Helfern und Zuarbeitern aus der Normalbevölkerung erfährt man mehr, als man sich zuweilen überhaupt vorstellen möchte. Am Ende steht ein umfassendes und differenzierten Bild der Gruppe(n) von Menschen, die von den Tätern zu einer gesichtslosen Masse bzw. zu einem verfemten Archetypus des Bösen, zu „dem Juden“ gemacht wurde.

Moshe Zimmermann verwebt im besten Sinne und mit hoher Kunstfertigkeit zahlreiche Geschichten zu einer Geschichte, die davon handelt, „wie aus Nachbarn einerseits Jäger und andererseits Freiwild wurden, nur weil man mithilfe von Ideologie, Worten und Gesetzen Menschen in Unmenschen verwandeln kann“. Diese Geschichte ist „unvergleichlich deprimierend“, wie der Autor im Schlusskapitel feststellt. Man sollte sie unbedingt lesen.

Moshe Zimmermann: „Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938–1945“. Aufbau Verlag Berlin 2008, 315 Seiten, 22,95 Euro