Wenn Erinnerung schmerzt

MENSCHENRECHTE Warum gerade schwere staatsterroristische Verbrechen häufig nicht bestraft werden, zeigen Knut Rauchfuss und Bianca Schmolze

Auch eine internationale Verwaltung ist kein Garant gegen die Straflosigkeit

VON ANETTE LANG

Im Jahr 1977 nannten sie ihn noch den „blonden Engel“. Der junge Mann unterstützte angeblich die Protestaktionen der Madres de Plaza de Mayo gegen die argentinische Militärdiktatur. Was kaum jemand wusste, war, dass der „blonde Engel“ ein Spitzel und Angehöriger des Marinegeheimdienstes namens Alfredo Astiz war und später zehn Frauen der Gruppe an die Entführungskommandos denunzierte. Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden unter der Junta in Argentinien entführt, gefoltert und ermordet.

Später sind die Madres zu Recht zur vielleicht berühmtesten NGO der Welt avanciert. Von ihnen und von vielen anderen Organisationen, die sich für die Aufklärung von staatlichen Verbrechen einsetzen, handelt das Buch „Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen die Straflosigkeit“ von Bianca Schmolze und Knut Rauchfuss.

Und eben auch von Menschen wie Alfredo Astiz, der ab 1986 mehrmals vor Gericht stand. Der Geheimdienstler, dem Entführung, Folter und Mord vorgeworfen wurden, wurde tatsächlich 2006 in Argentinien verurteilt.

Mut und Beharrlichkeit

In fünf dicht recherchierten Kapiteln zeigt Rauchfuss, wie die demokratischen Nachfolgeregierungen in Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Guatemala mit dem Erbe der Diktatur umgehen. Anhand der beiden Instrumente Wahrheitskommission und Amnestiegesetz verdeutlicht der Autor das Ringen um Strafverfolgung zwischen den Regierungen und der betroffenen Bevölkerung, das nun schon mehrere Dekaden andauert.

Rauchfuss’ Ausführungen bleiben dabei basisorientiert, und der Autor hat mit seiner Gewichtung völlig Recht. Denn in vielen Fällen sind es gerade Einzelne, kleine Zusammenschlüsse von Angehörigen und Überlebenden des Staatsterrors, die sich dem staatlichen Vergeben und Vergessen entgegenstellen. Mit erstaunlichem Mut, mit Beharrlichkeit und Kreativität fanden einige sogar Möglichkeiten, die Straflosigkeit zu unterwandern. Die Abuelas de Plaza de Mayo etwa entdeckten mit dem Tatbestand der Kindesentführung ein Verbrechen, das nicht von der argentinischen Amnestieregelung gedeckt wurde. Heute gibt es sogar einen Paragrafen in der Internationalen Kinderrechtskonvention, der nach ihnen benannt ist.

Bianca Schmolze beschäftigt sich im zweiten Teil des Buches mit Ländern in anderen Teilen der Welt wie Ruanda, Sierra Leone oder Osttimor, die ebenfalls eine Tragödie in der jüngeren Landesgeschichte aufzuarbeiten haben. Ein deutlicher Unterschied zu den Nachfolgeregierungen in Lateinamerika besteht jedoch darin, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen in den von Schmolze betrachteten Beispielen meist jüngeren Datums sind und ein supranationales Strafgericht zu deren Aufklärung eingriff.

Schmolze gelingt es, auch bei der Betrachtung der Internationalen Strafgerichtshöfe den basisorientierten Ansatz des Buches weiterzuverfolgen. Weniger als für die Täter interessiert sich Schmolze dafür, was die Tribunale für die oftmals stark traumatisierte Gesellschaft bedeuten können.

Neues Vertrauen schaffen

Die Autorin zeigt, dass die Verurteilung einiger weniger Schlüsselfiguren von der Bevölkerung als zu abstrakt abgelehnt wird. Aufbauend auf den Erfahrungen aus den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) zieht Schmolze einen Bogen zum neueren Modell der gemischten Tribunale, wie sie etwa in Sierra Leone eingesetzt wurden. In diesen, die auch auf nationale Belegschaft und Rechtsprechung zurückgreifen, sieht die Autorin zumindest eine Möglichkeit, der Bevölkerung neues Vertrauen in die lokale Regierung zu vermitteln.

Überraschend ist deshalb, dass in den letzten beiden Kapiteln, die sich ausschließlich mit dem ICTY beschäftigen, der bislang verfolgte Ansatz beinahe gänzlich aufgegeben wird. Weiterhin sehr gut und dicht recherchiert ist die Unparteilichkeit des ICTY. Die Ausführungen von Boris Kanzleiter über die Kriegsverbrechen im Kosovo zeigen, dass auch eine internationale Verwaltung kein Garant gegen die Straflosigkeit ist. Wie es um die Glaubwürdigkeit des ICTY bei der Bevölkerung bestellt ist, wird dagegen nur gestreift. Fast scheint es, als ob die Autoren, die ihre Informationen aus „zahlreichen Interviews mit den AkteurInnen vor Ort“ gezogen haben wollen, mit der Bevölkerung Ex-Jugoslawiens nicht so richtig ins Gespräch gekommen sind.

Auch wenn man dem Buch ein besseres Lektorat in Bezug auf Kommasetzung und Tippfehler gewünscht hätte, haben Schmolze/Rauchfuss einen wichtigen Beitrag zur Gerechtigkeitsforschung vorgelegt. Insofern handelt es sich bei diesem Beitrag um mehr als ein Pflaster auf die wunde Stelle.

■ Bianca Schmolze, Knut Rauchfuss (Hg.): „Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit“. Berlin und Hamburg 2009, Assoziation A, 422 Seiten, 20 €