„Versierter Technokrat, aber nie eine Lichtgestalt“

BUNDESKANZLER Politiker sind Selbstdarsteller. Christoph Scheurle hat die Darstellungsstile der Kanzler und Kandidaten von Adenauer bis Merkel im Schlüsselmedium Fernsehen untersucht

ist Lehrbeauftragter der Uni Hildesheim und forscht zur Theaterwissenschaft. Mitglied des Theaterensembles 3%XTRA!. Er lebt in Berlin und arbeitet als Schauspieler und Dramaturg.

Foto: Lippmann/transcript

taz: Herr Scheurle, Sie untersuchen in Ihrer kürzlich erschienenen Studie die Darstellungsstrategien deutscher Bundeskanzler unter theaterwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Ist Politik nichts weiter als eine inszenierte Komödie?

Christoph Scheurle: Nein, Politik ist natürlich viel mehr als das. Die Frage ist nur, welche Teile der Politik uns als Normalbürger erreichen. An der Inszenierung an sich ist nichts Verwerfliches. Schwierig wird es dann, wenn die Inszenierung sich von ihrem eigentlichen Gegenstand, der Politik, entkoppelt. Dann kann sie auch als Komödie erscheinen, etwa wenn das private Verhalten mit dem politischen Image kollidiert.

Im Theater geht es um Fiktion, in der Politik um Fakten. Warum glauben Sie den Begriff der Inszenierung auf politische Bereiche anwenden zu können?

Ob damit die wesentlichen Unterschiede von Theater und Politik markiert sind, bin ich mir keineswegs sicher. Schauen Sie sich die Wahlprogramme der Parteien an. Auf welcher Faktenlage sollen denn deren Lösungsvorschläge beruhen? Das Theater hat andersherum schon oft Einfluss auf das Politische genommen. Ich nenne nur mal Christoph Schlingensief, der mit Theateraktionen wie „Ausländer raus“ oder „Chance 2000“ Einfluss auf österreichische Politik und deutsche Wahlen ausgeübt hat und dessen künstlerischer Ansatz es ist, „die Wirklichkeitsinszenierung umzuinszenieren“. Grundsätzlich geht man schon seit den 1970er-Jahren davon aus, dass Politik der Inszenierung bedarf, um vermittelbar zu bleiben. Die Frage ist nur, welche Inszenierungsstrategien sind dem Zweck angemessen und wo erweist sich die Inszenierung als inhaltsleere Luftblase.

Werden die Wähler durch das Inszenierungsgehabe zu Zuschauern herabgewürdigt?

In schlechten Fällen sicherlich. Meistens am Sonntag bei „Anne Will“, wo die Zuschauer sich die unterschiedlichen Welterklärungsmodelle der Politikprominenz anhören können, ohne dass es eine echte Form der Zuschauerpartizipation gibt. Hier verkommt die Inszenierung ins Formelhafte. Das Politmagazin ist zu einem Sloganabwurfplatz geworden. Das ist nicht nur die Schuld der Politiker, sondern auch der Medien.

Welche Möglichkeiten haben Bundeskanzler bei der Gestaltung ihrer Rolle?

Kanzler und Kandidaten können aus einem großen Arsenal der eigenen Biografie schöpfen, um gleichermaßen für neue Ziele als auch für die eigene Person zu zeugen. Auf einem solchen Hintergrund basierend kann eine Rolle konsistent und überzeugend sein. Beispielsweise hat Schröders Biografie als Kriegskind und Akademiker über den zweiten Bildungsweg immer als glaubwürdige Argumentationsstütze für dessen Kampf um eine kostenlose Ausbildung funktioniert. Im letzten Bundestagswahlkampf hat Angela Merkel immer wieder auf ihre Ostbiografie verwiesen und überzeugend dargestellt, dass sie entschlossen für einen Neuanfang kämpft. So überzeugend, dass sie am Ende fast nicht Kanzlerin geworden wäre.

Haben Sie einen Tipp für den SPD-Kandidaten Steinmeier, dessen öffentliches Profil oft als schwach angesehen wird?

Ich vermute, dass die Profilschwäche, die Sie an Steinmeier ausmachen, mit seiner (politischen) Biografie zu tun hat: unter Schröder ein versierter Technokrat, aber nie eine Lichtgestalt der SPD, die sich zumindest mal in Niedersachsen zu beweisen wusste. Auch seine persönliche Biografie ist so gut wie unbekannt. Vergleichen Sie mal Ihr Ad-hoc-Wissen über Angela Merkels Vergangenheit mit dem über Steinmeiers, sie werden merken, Steinmeiers Background liegt im Dunkeln. Bestenfalls werden einige wissen, dass er schon in der Staatskanzlei Hannover Büroleiter war und als Architekt der Agenda 2010 gilt. Keine wirklich guten Voraussetzungen. Andererseits kann man eine Legende nicht so einfach lancieren. Und dann muss die Geschichte nicht nur gut sein, sondern sie muss auch im Kern wahr sein, sonst ergeht es einem wie Friedrich Merz, der als Möchtegernrocker baden gegangen ist. INTERVIEW: MICHAEL RÖSENER

■ Christoph Scheurle: „Deutsche Kanzler im Fernsehen. Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte“, transcript, 2009, 246 S., 25,80 Euro