„Die Camorra stellt den Konsens her“

ANTI-MAFIA Raffaele Cantone über den Kampf gegen die Camorra in der neapolitanischen Provinz

1963 geboren, war von 1999 bis 2007 leitender Staatsanwalt der Anti-Mafia-Behörde in Neapel und an den großen Prozessen gegen die Camorra-Clans beteiligt. Seit 2008 arbeitet er am Kassationsgericht in Rom. Foto: Ropi

taz: Dottor Cantone, nach acht Jahren als Anti-Mafia-Staatsanwalt – können Sie heute ein normales Leben führen?

Nicht so sehr. Seit 2003 lebe ich rund um die Uhr unter Polizeischutz. Ich habe keine normalen Beziehungen zum öffentlichen Leben. Aber der Schutz ermöglicht mir, in Gelassenheit meiner Arbeit nachzugehen. Nur meine Familie, die hat sich nicht aussuchen können, so zu leben.

Gibt es ein Gemetzel im Süden, schickt der italienische Staat gern Soldaten. Was halten Sie davon?

Soldaten sind sicher nützlich, denn die Kontrolle des Territoriums ist essenziell. Aber der Fehler ist, die Camorra als eines der vielen Probleme der öffentlichen Ordnung zu begreifen. Mit dem Heer lassen sich kriminelle Phänomene wie Diebstahl oder Überfall begrenzen. Aber die Camorra hat eine andere Charakteristik. Sie schafft in dem Gebiet, in dem sie operiert, eine Kultur des Einverstandenseins.

Der Chefkommentator des Corriere della sera sagte in einem taz- Interview, man könne es der Industrie in Norditalien nicht anlasten, wenn sie von den unternehmerischen Möglichkeiten profitiere, die ihr die Camorra etwa auf dem Feld der illegalen Müllentsorgung biete.

Wer von Möglichkeiten profitiert, hat auch Verantwortung! Die Unternehmer im Norden geben nur vor, nicht zu wissen, wie ihr Müll entsorgt wird. Sie zahlen nur ein Zehntel des Marktpreises und stellen keine Fragen? Wenn Industrielle aus dem Norden im Süden eine Ausschreibung gewinnen, dann arbeiten sie in der Regel mit Firmen zusammen, die von der Camorra kontrolliert werden. Dieses System nutzt der Mafia, die Geld kassiert und vor allem Arbeitsplätze schafft, was sie in der Region als soziale Kraft stärkt. Das ist der entscheidende Punkt. Denn dadurch, dass die organisierte Kriminalität etwas zu bieten hat, verankert sie sich auch kulturell. Sie wird zum Vorbild der jungen Leute.

Was halten Sie von föderalistischen bzw. sezessionistischen Plänen, etwa der Lega Nord?

Der Föderalismus könnte zum gigantischen Geschenk für die Mafia werden. Denn wenn keine oder weniger Umlagen aus dem Norden kommen, riskiert man, dass die Bedeutung der organisierten Kriminalität ansteigt. Die Mafia wird zur Anlaufstelle für die Sorgen der Bürger. Ich will nicht spitzfindig werden: Aber zum Programm der Mafia in den 90er-Jahren gehörte die Dreiteilung Italiens. Die Mafia hätte gern ein Gebiet, das ihr gehört, einen Mafiastaat, wie es sie in Südamerika gibt.

In Deutschland wird derzeit über den Wert der Zivilcourage diskutiert. Muss jeder Bürger ein Held sein?

Man kann von niemandem verlangen, ein Held zu sein. Aber natürlich gibt es ein Wort, das schwer wiegt, die Würde. Man kann sich nicht damit herausreden, dass in jedem U-Bahn-Wagen ein Polizist sitzen sollte. Wenn wir keinen Orwell-Staat haben wollen, können wir nur langsam mit Mitteln der Erziehung den Trend zur Gewalt umkehren. Was sonst wären die Konsequenzen für unsere Freiheit?

Was heißt das für Italien?

Sicher muss es grundlegend größere Anstrengungen geben, was die Erziehung angeht, um eine bestimmte Mentalität im Süden zu verändern, dann kommen wir auch zu mehr Zivilcourage.

Aber entscheidend ist das Netzwerk des Konsenses. Und diesen Konsens stellt die Camorra her durch ihre Verflechtung mit der Wirtschaft und mit der Politik.

INTERVIEW: AMBROS WAIBEL

Raffaele Cantone: „Allein für die Gerechtigkeit“. Verlag Antje Kunstmann, München 2009, 256 Seiten, 19,90 Euro