Tanzräume für die Kunsthalle
TANZTHEATER Das Theater am Goetheplatz zeigt Urs Dietrichs „Perpetuum Mobile“ in einer Uraufführung und läutet damit die Wiedereröffnung der Kunsthalle ein
„Situationen sind für mich so etwas wie Räume“, sagt Urs Dietrich und inszeniert die Bühne als großen schwarzen Kubus
von Jens Laloire
Knapp zwei Jahre rotierten nicht die Kunstschaffenden und die Besucher durch die Bremer Kunsthalle, sondern Architekten sowie Handwerker. Statt Dürer und Picasso gab es Kräne und Betonmischer. Der Mittelpunkt der etablierten Bremer Kunstszene schien stillzustehen. Das wird sich am 20. August ändern, wenn die Kunsthalle nach langer Umbaupause wieder ihre Pforten öffnet. Diese Wiedereröffnung ist Ausgangspunkt der neuen, spartenübergreifenden Tanztheaterproduktion „Perpetuum Mobile“, die als Uraufführung am Freitagabend letzter Woche am Goetheplatz zu sehen war.
Das Stück des Choreografen Urs Dietrich ist nach „Flacon“ von 2005 die zweite Zusammenarbeit mit dem Museum. Während vor sechs Jahren die Impressionisten-Ausstellung „Monet und Camille“ Anlass für eine Kooperation bot, ließ Dietrich sich nun von der bevorstehenden Neueröffnung der um zwei Flügel erweiterten Kunsthalle inspirieren und stellte sich die Frage: „Was bedeutet Wiederöffnung? Im Hinblick auf die Gegenwart und die Zukunft.“
Entstehen und Vergehen, Wandel und Wiederholung sind die Leitmotive von „Perpetuum Mobile“. Neben dem Tanzensemble kommen vier Akteure aus Schauspiel sowie eine Pianistin der Bremer Oper zum Einsatz. Zur live eingespielten Klaviermusik von Franz Schubert und mit Textauszügen der 2010 erschienen „Abendlandnovelle“ der Autorin Friederike Roth widmen sich die Akteure dem Kreislauf und der Flüchtigkeit des Lebens. Dabei entsteht keine fortlaufende Geschichte, sondern eine Bilderfolge, die den Ausstellungsräumen eines Museums gleicht. „Man geht in der Kunsthalle real durch Türen in neue Räume, aber man kann das auch als Metapher verstehen. Man kommt in eine neue Situation. Situationen sind für mich so etwas wie Räume“, sagt Dietrich und inszeniert die Bühne als großen schwarzen Kubus, mit einer kleinen Tür im Hintergrund, die als Aus-, Ein- und Übergang dient. In dem dunklen Raum präsentieren die Darsteller dem Publikum permanent neue Situationen. Im Museum wandelt der Besucher durch die Räume, um die statisch auf ihrem Platz verharrenden Kunstwerke zu betrachten, hier hingegen verharrt der Betrachter auf seinem Platz, während sich die Situationen vor seinen Augen unaufhörlich wandeln. Das Perpetuum mobile ist ständig aus sich heraus in Bewegung, die Tänzer agieren im Solo, im Duett oder als Gruppe. Szenen greifen ineinander, Motive wiederholen sich, sind aber nie genau gleich, sondern immer leicht verändert. Eine Konstante ist neben der Klaviermusik von Schubert der vom Beginn bis zum Ende sanft von der Decke herabrieselnde Schnee, der nach und nach den schwarzen Bühnenboden bedeckt und durch die Tanzbewegungen wieder und wieder aufgewirbelt wird. Darüber hinaus bleibt die Bühne spartanisch ausgestattet, nur gelegentlich kommen Requisiten zum Einsatz. Eine Matratze wandert auf die Bühne, wird Teil einer Szene, fällt zu Boden und dient einem getanzten Liebesduett als Unterlage. Dann weicht die Matratze langsam aus dem Bild, als Rückwand für eine Schauspielerin, die einen Auszug aus der „Abendlandnovelle“ spricht, dabei mit kaum sichtbaren Schritten rückwärts geht und schließlich durch die Tür entschwindet. Neben wunderschönen, zwischen Dynamik und Ruhe variierenden Tanzeinlagen sowie den punktuell von den Schauspielern gesprochenen Texten ist es dieser sehr behutsame Einsatz der Requisiten, der die einzelnen Blitzlichter zu einem Ganzen verschmelzen lässt. Alle Elemente sind elegant miteinander verwoben, nie entstehen Längen, die Atmosphäre bleibt durchgehend dicht. Bis plötzlich das Ensemble – wie schon zu Beginn – ganz nach vorne an den Bühnenrand stürmt, erschrocken in den Saal schaut, sich langsam abwendet und in jener Tür an der Rückwand verschwindet, die schließlich von der letzten Tänzerin geschlossen wird. Zurück bleiben Leere und Stille, der Schnee rieselt nicht mehr und die vor 70 Minuten begonnene Vorstellung ist vorüber: „Die Zukunft wurde so schnell Gegenwart, dass kaum bemerkbar wurde, wie Zukunft längst schon Vergangenheit war“, heißt es bei Friederike Roth.
■ nächste Aufführung: Samstag, 19.30 Uhr, Theater am Goetheplatz
