Das letzte Einhorn

ROCK Motorpsycho kümmern sich nicht um neue Musik. Vielleicht weil alte manchmal viel interessanter ist? Paradoxerweise erschaffen sie selbst durchaus Neues

Es ist immer ein bisschen wie Weihnachten, eine neue Veröffentlichung der Band in den Händen zu halten – nur öfter

von Andreas Schnell

“Gewaltig“, „beispiellos“, „wahnwitzig“, „Ehrfurcht gebietend“ - das sind nur einige der Begriffe, die die Musikkritik von Intro bis Focus in Anschlag bringt, um des neuen Motorpsycho-Albums Herr zu werden. Dabei sind Superlative in Bezug auf die norwegische Band, die seit rund zwanzig Jahren permanent an ihrer Musik arbeitet, ohnehin nicht selten.

Der Autor dieser Zeilen bezeichnete Motorpsycho auf diesen Seiten einmal gar als „wahrscheinlich die einzige Band, die man wirklich braucht“. Was selbstverständlich ein wenig überzogen ist. Schaut man sich allerdings an, mit welcher Hingabe die Fan-Gemeinde ihrer Band folgt, ist da schon etwas dran. Umso bemerkenswerter ist diese Treue im Angesicht und zum Trotz der vielbeschworenen Krise der Musikindustrie, weil Motorpsycho sich bis heute nicht mit einem Stand des Erreichten zufriedengeben. Von den schwer rockenden Anfängen über eine hinreißende Melange aus Post-Hardcore und ausufernder Psychedelik, Exkurse in Folk, Country, Jazz und die Kompositionstricks eines Burt Bacharach bis hin zum neuen Album, das über zwei Langspielplatten ein Konzept ausbreitet, das lyrisch mit Einhörnern, musikalisch mit einem von einem erweiterten Jazz-Verständnis durchdrungenen Progressive-Rock zu tun hat, haben sie schon so einiges ausprobiert – von den „Nebenwerken“ ganz zu schweigen, wo sie ihrer Vorliebe für Freiform-Rock, Heavy Metal, Sun Ra und Captain Beefheart verfolgten. Eine Entwicklung, die auf vierzehn regulären Alben, fünf Live-Platten, mehreren Joint Ventures und Nebenwerken sowie zahlreichen kleineren Formaten dokumentierten, und jedes Mal gab es wieder etwas anderes zu hören. Weshalb es auch immer ein bisschen wie Weihnachten war, eine neue Veröffentlichung der Band in den Händen zu halten – nur öfter.

Von derartig beständiger Fan-Liebe können die meisten Bands nur träumen, wahrscheinlich waren nur die Deadheads, die legendäre Gefolgschaft der Psychedelic-Legende Greatful Dead, treuer. Aber natürlich ist diese Liebe hart erarbeitet. Konzerte dauern kaum weniger als zwei Stunden und die stete Arbeit an der eigenen Musik ist eben auch – Arbeit. Nicht nur, dass die neuen Ausdrucksformen auch neue Mittel erfordern. Als Band einmal zu so einer eng verzahnten Einheit zu werden, ist auch nicht ohne viel Schweiß zu haben. Hier dürfen wir noch einmal an Greatful Dead denken: Rock-Bands, die unter Improvisation mehr verstehen als ein paar Töne des Gitarrensolos zu variieren, gibt es auch nicht so wahnsinnig viele. Die aus beinahe jedem Song an einer festgelegten Stelle abspringen und sich für eine halbe Stunde dem freien Flug der Ideen überlassen können. Die nicht zumindest noch eine durchlaufende Kadenz, einen durchlaufenden, möglichst geraden Beat benötigen, um nicht verloren zu gehen.

Dazu bedarf es natürlich ausgebuffter Typen. Weshalb es ein schwerer Schlag war, als Schlagzeuger Håkon Gebhardt, seit 1991 in der Band, vor sieben Jahren die Band verließ. Eine Interimsbesetzung hielt nur kurz, seit 2007 ist Kenneth Kapstadt mit von der Partie und ergänzt die beiden Ur-Motorpsychos Bent Sæther und Hans Magnus Ryan kongenial. Für das neueste Werk nun haben sich Motorpsycho mit dem norwegischen Jazzer Ståle Storløkken zusammengetan und den Zyklus „The Death Defying Unicorn“ komponiert. Initiiert wurde diese Kooperation vom norwegischen Jazzforum, das die Band gebeten hatte, mit dem Trondheim Jazz Orchestra und Storløkken beim 50. Jubiläum des Moldejazz-Festivals 2010 zu spielen. Das für diesen Zweck komponierte Material wurde später überarbeitet und zu der „musical fable“ ausgesponnen, die seit ein paar Monaten als Doppelalbum vorliegt. Darin kommen die klassische Schwere, die im Kern von Motorpsycho allzeit rumort, eine zumal im Rock-Kontext kühne Jazz-Sprache und orchestrale Epik zusammen, zwar nicht zur entgrenztesten Musik, die wir von Motorpsycho je hören konnten (das dürfte dann wohl immer noch das Live-Album „Roadwork Vol. 2: The Motorsource Massacre“ mit der norwegischen Free-Jazz-Combo The Source sein), aber doch zu einer im aktuellen Kontext reichlich singulären Musik zusammen.

Was natürlich auch damit zu tun hat, dass Motorpsycho sich wirklich nicht, wie ein Slogan ulkt, mit moderner Musik auskennen. Das ist natürlich auch wieder ein bisschen übertrieben. Aber es ist was dran. Motorpsycho benutzten nicht alte Sounds im Sinne von Retro, um daraus etwas zu erzeugen, das irgendwie hip sein soll. Sie erkunden entlegenere Gebiete der Musikgeschichte. Dass die meistens auch historisch entlegen sind, kümmert sie nicht. Und muss es auch nicht. Neu ist ihre Musik dann nämlich doch. In ihrem eigenen Kosmos – und jeden Abend auf der Bühne, wo jedes Konzert anders ist.

■ Mittwoch, 20 Uhr, Schlachthof