Kein Geld für Alphabetisierung

BILDUNG Fast 80.000 Bremer können nicht lesen und schreiben. Für mehr Kursangebote fehlen die Mittel

„Wenn die Nachfrage nach Alphabetisierungskursen steigen würde, hätten wir dafür die gleichen finanziellen Mittel zur Verfügung wie jetzt“

Monika Wagener-Drecoll, VHS

Wer einzelne Sätze entziffern kann, aber nicht in der Lage ist, einen zusammenhängenden Text zu schreiben oder zu lesen, gilt als „funktionaler Analphabet“. In Bremen und Bremerhaven gibt es davon 60.000. Hinzu kommen knapp 19.000 Menschen, die höchstens in der Lage sind, einzelne Wörter buchstabierend zusammenzusetzen. Diese Zahlen, beruhend auf Schätzungen des statistischen Landesamtes und gestützt auf eine Studie der Uni Hamburg, liegen fast doppelt so hoch wie bisher angenommen.

Anlässlich dessen hat die Bürgerschaft am vergangenen Donnerstag einstimmig dem Antrag von SPD, Grünen und CDU zugestimmt, bis Ende des Jahres ein ressortübergreifendes Konzept für die Alphabetisierung in Bremen vorzulegen.

Die Volkshochschule (VHS), die Wirtschafts- und Sozialakademie, das Paritätische Bildungswerk und die Justizvollzugsanstalt bieten bereits Alphabetisierungskurse an, eine Arbeitsgruppe will bis 2014 eine gemeinsame „Grundbildungsstrategie“ entwickeln. Im Zuge dessen wird auch geprüft, ob an der VHS ein entsprechendes Kompetenzzentrum eingerichtet werden kann.

Die Betroffenen müssen den Weg des Lernens aber erst einmal beschreiten, und diese Hürde scheuen viele. Die Grünen-Abgeordnete Silvia Schön fordert vom Senat zielgerichtete Öffentlichkeitskampagnen, die es auf Bundesebene bereits gebe, um den Menschen die Angst und Scham zu nehmen. Das betrifft vor allem Männer, die mit einem Anteil von nur 34 Prozent Grundbildungsangebote nutzen.

„Analphabetismus ist ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft“, sagt Kristina Vogt (Die Linke). 60 Prozent der Betroffenen hätten Deutsch als Muttersprache, 80 Prozent einen Schulabschluss. Vogt fordert mehr Geld für Bildungseinrichtungen. Gerade die VHS leide unter dem Konsolidierungskurs, die Dozentenhonorare seien viel zu gering: „Hier muss vom Senat unbedingt gegengesteuert werden.“

Sabina Schoefer, Direktorin der VHS Bremen, sieht den Handlungsbedarf eher auf Bundesebene. Sie fordert eine zentrale Förderung für AnalphabetInnen: „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanziert Alphabetisierungskurse für Menschen mit Migrationshintergrund“, sagt sie, „aber alle anderen Betroffenen müssen sie aus eigener Tasche bezahlen.“ Das könnten die wenigsten, und so sind die „Alphakurse“ der VHS kostenfrei, finanziert aus Gebühren, die andere Kurse einbringen und durch Zuschüsse. Das Jobcenter übernimmt die Kosten für Grundbildung nicht: „Dort werden nur berufsspezifische Weiterbildungen finanziert.“

„Wir wären natürlich gerne in Zukunft das Grundbildungszentrum“, sagt Monika Wagener-Drecoll, VHS-Fachbereichsleiterin für Grundbildung, „aber wenn die Nachfrage nach Alphabetisierungskursen steigen würde, hätten wir dafür die gleichen finanziellen Mittel zur Verfügung wie jetzt.“ Die VHS habe Kapazitäten für höchstens 700 Menschen, anderen Bildungsträgern gehe es nicht besser.

„Es müssen sich viel mehr Menschen verantwortlich fühlen“, sagt Schoefer. Sie ist erfreut über die Bildung der Arbeitsgemeinschaft: „Vor allem die Teilnahme des Jobcenters ist ein gutes Zeichen“. Ziel müsse ein „Grundbildungspakt“ sein, der auch Unternehmen einschließe: „In vielen anderen europäischen Ländern bieten Unternehmen Alphabetisierungskurse an oder stellen ihre Angestellten frei, damit sie an Grundbildungskursen teilnehmen können.“ Davon sei Deutschland weit entfernt.

SIMONE SCHNASE