Das System der Inobhutnahme kollabiert

Soziales Weil mehr als drei Mal so viele minderjährige Flüchtlinge wie in den Vorjahren in Bremen leben, gerät das gesamte lokale Nothilfesystem für Kinder und Jugendliche momentan an seine Grenzen

„Die Notaufnahme ist dauerbelegt“

TORSTEN STELLMANN, ST. TERESIENHAUS

Nicht nur die minderjährigen Flüchtlinge, auch die Bremer Notaufnahme-Einrichtungen leiden unter fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten. „Das System droht zu kollabieren“, sagt Torsten Stellmann, Fachbereichsleiter des St. Theresienhaus. Dort werden Jungen und Mädchen betreut, die aus ihren Familien genommen wurden.

Vereinzelt habe man in den vergangenen Jahren immer wieder Flüchtlinge aufgenommen, die ohne ihre Familien nach Bremen geflohen sind, so Stellmann. Seit Oktober aber würde das Jugendamt so viele von ihnen schicken, dass die Aufnahmekapazitäten nicht ausreichen.

„Die Notaufnahme ist dauerbelegt“, so Stellmann. Das sei für alle Inobhutnahmehäuser ein Problem, weil sie so flexibel sein müssen, jederzeit Kinder und Jugendliche aus Notsituationen aufnehmen zu können. Dort sollen sie maximal sechs Wochen bleiben. Die Flüchtlinge blieben aber bis zu einem Vierteljahr.

Wie die taz berichtete, sind auch die auf die unbegleiteten Flüchtlinge spezialisierten Einrichtungen überlaufen. Wurden in den Vorjahren rund 40 von ihnen jährlich in Obhut genommen, lebten im vergangenen Jahr 147 in Bremen. Die Sozialbehörde räumte auf Nachfrage der taz ein, trotz der Ausnutzung des gesamten Kinder- und Jugendhilfesystems in Bremen nicht alle unterbringen zu können.

Einige müssen deshalb länger als vorgesehen in der Zentralen Aufnahmestelle (Zast) ausharren, wo alle, auch die erwachsenen Flüchtlinge, zunächst wohnen müssen. Die Minderjährigen sollen höchstens drei Tage dort bleiben, weil sie ein Recht darauf haben, nach dem deutschen Kinder- und Jugendschutzgesetz behandelt zu werden. Dies sieht eine sozialpädagogische Betreuung vor. Die Sozialbehörde arbeitet nach eigenen Angaben an einem Notkonzept, um sie in der Zast zu betreuen.

MitarbeiterInnen von Kinderheimen wie Stellmann oder sein Kollege Friedhelm Stock vom Verein „Jugendhilfe und soziale Arbeit“ fordern ein „Clearinghaus“ als erste Anlaufstelle für minderjährige Flüchtlinge. „Dort können wir sie kennenlernen und klären, welchen Hilfebedarf sie haben“, sagt Stock. „Anders als unsere anderen Jugendlichen kommen die für uns aus dem Nichts. Wir wissen nicht, wie sie hierher gekommen sind, was sie erlebt haben, ob sie Kindersoldaten waren.“

Einzelne zu integrieren habe in der Vergangenheit gut funktioniert, sagt Stock. Die große Zahl an Flüchtlingen führe jedoch zu Problemen, etwa in der Verständigung. Und Deutsch lernen die Flüchtlinge momentan auch langsamer als sonst – die Sprachkurse sind überfüllt. „Die müssen aber so schnell wie möglich hier ankommen“, sagt Stock, „sonst landen sie in einer Parallelgesellschaft.“ Einige sind dort bereits, hat sein Kollege Stellmann beobachtet. „Natürlich gibt es Probleme mit Delinquenz und Drogen, da muss man sich nichts vormachen.“

Auf der anderen Seite gibt es die, die etwas wollen – und nicht dürfen oder können. „Wir haben einige, die gerne was im sozialen Bereich machen würden“, sagt eine Mitarbeiterin einer Einrichtung, die anonym bleiben möchte. Angeboten würde der Mehrheit – deren Sprachkenntnisse und schulische Vorbildung nicht für den Besuch an einer Regelschule ausreichen – aber nur eine Ausbildung im Bereich „Holz“ oder „Metall“. Ständig würden sie in ihrer Lebensgestaltung eingeschränkt, sagt die Sozialarbeiterin. „Die müssen sich von der Ausländerbehörde die Erlaubnis holen, die Stadt zu verlassen, die dürfen nur arbeiten, wenn der Arbeitgeber nachweist, niemand anderes gefunden zu haben, die wissen nicht, wie lange sie bleiben können, wie es mit ihnen weiter geht. Manchmal habe ich das Gefühl, die kriegen erst in Deutschland richtig einen Knacks.“  EIB