Die Boheme à la Playa

Dank dem Künstler Santiago Rusiñol wurde der katalanische Küstenort Sitges zur Hauptstadt des Modernismo. Die Stadt, in der einst Jugendstilfestivals gefeiert wurden, ist heute beliebter Ferienort

Landschaft, Literatur, Natur und Kultur Kataloniens hat das katalanische Kulturinstitut in einem Magazin verbunden. Auf den „literarischen Routen der katalanischen Kultur“ begegnet der Reisende dem Autor Josep Pla, dem Surrealisten Salvador Dalí oder auch der Dichterin Maria-Mercè Marçal. Da die katalanische Kultur nicht von der Küche zu trennen ist, klärt das Heft auch über die Geheimnisse der Calçotada auf, der im Winter auf offenem Feuer gebratenen Frühlingszwiebeln, und stellt die älteste Mandelbäckerei Kataloniens in Reus vor. Ein empfehlenswerter Wegweiser durch die Kulturregion. UFO

Zu beziehen bei: Tourismus Consorci de Turisme de Catalunya, Palmengartenstr. 6, 60325 Frankfurt, Tel. (0 69) 74 22 48 73; Fax: (0 69) 74 22 48 96, info@katalonien-tourismus.de, www.catalunyaturisme.com

VON GÜNTER HERKEL

Vom Passeig de Gràcia in Barcelona benötigt der Nahverkehrszug gerade mal 40 Minuten bis Sitges. Rucksacktouristen steigen oft schon vorher aus, um am Strand von Castelldefels zu baden. Wer mehr will als Sonne und Meer, fährt weiter in Richtung Vilanova bis Sitges. Der kleine, freundliche Küstenort wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zum Begegnungsort vieler Künstler.

Im Jahr 1893 lässt sich der Maler und Schriftsteller Santiago Rusiñol in der Stadt nieder. Vier Jahre zuvor hatte er im Alter von 28 Jahren Frau und Kind in der katalanischen Provinz zurückgelassen, um sich ganz dem Bohemeleben zu widmen, zunächst am Pariser Montmartre. In Sitges schafft er jenes künstlerische und kreative Ambiente, das den kleinen Küstenort nahe Barcelona bis heute zum Anziehungspunkt für Artisten, schräge Vögel und in der Überzahl schwule Touristen macht.

Wie viele junge Intellektuelle seiner Zeit empfand der Fabrikantensohn Rusiñol die katalanische Kultur als provinziell und antiquiert. Seine Entscheidung für ein Leben als Künstler korrespondiert mit einer Erneuerungsbewegung, dem Modernismo, der katalanischen Variante des Jugendstils. In kürzester Zeit profiliert sich Rusiñol als Leitfigur und Sprachrohr des Modernismo. In Sitges findet er den idealen Ort für die Realisierung seines Traums von der „totalen Kunst“. Ihn faszinieren das Weiß der Häuser und das Blau der Innenhöfe. Auch gefällt ihm die freundliche Aufnahme durch die Maler und Landschaftsarchitekten der Schule der Luministen. Bald entscheidet er sich, hier ein Haus für sein Atelier und als Aufbewahrungsort für seine bislang in Barcelona untergebrachte umfassende Sammlung alter katalanischer Schmiedeeisengitter zu bauen. An die Stelle von zwei neben der Kirche am Meeresufer stehenden Fischerhäusern setzt er das Cau Ferrat (wörtlich etwa: eisenbeschlagene Höhle). Eingeweiht wird das Haus im Sommer 1894 mit einem spektakulären Festumzug durch die Straßen von Sitges. Dabei werden auch zwei Gemälde von El Greco mitgeführt, die Rusiñol in Paris erworben hat. Rusiñol ist es auch, auf dessen Betreiben dem aus Kreta stammenden Barockmaler an der Strandpromenade ein spendenfinanziertes Denkmal gesetzt wird.

Heute erwartet den Besucher des Museu Cau Ferrat ein riesiges Sammelsurium von Objekten: Gemälde von Pablo Picasso, Ramon Casas und El Greco, die erwähnte Schmiedeeisensammlung, Keramiken und Kristallobjekte, archäologische Funde sowie zahlreiche Kunstobjekte des katalanischen Jugendstils. „Ein Genuss für die Augen und den Geist“, wie Rusiñol selbst von seiner Sammlung schwärmte. Einige der wichtigsten Objekte befinden sich allerdings derzeit im Amsterdamer Van-Gogh-Museum, wo kürzlich die Schau „Barcelona 1900“ eröffnet wurde. Darunter auch verschiedene Hauptwerke Rusiñols, etwa das Gemälde „La Morfina“ in dem der Künstler die Morphiumsucht verarbeitete, die ihn an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zu einer Entziehungskur zwang. Danach therapierte er sich selbst beim Malen von postimpressionistischen Gartenbildern.

Zu diesem Zeitpunkt sind die berühmt-berüchtigten Festes Modernistes bereits Geschichte. Das von Rusiñol zwischen 1892 und 1897 jährlich in Sitges veranstaltete Jugendstilfestival feierte die Avantgarde der schönen Künste, ob Malerei, Literatur oder Theater, in Opposition zum verknöcherten Mainstream des katalanischen Bürgertums.

Ein schöner Ort ist auch das unmittelbar an das Cau Ferrat angebaute Museu Maricel. Das vom US-amerikanischen Kunstmäzen Charles Deering Anfang des 20. Jahrhunderts in einen Kunsttempel verwandelte ehemalige Hospital beherbergt diverse Sammlungen: Kunstobjekte, Gemälde und Möbel diverser Stilepochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Um hier trunken zu werden, bedarf es nicht des ultrasüßen Malvasierweins. Wer ihn dennoch kosten will, kann dies im Hospital de San Juan Bautista, erbaut von dem Modernismo-Architekten Josep Font i Gumà. In der angeschlossenen Bodega wird der Wein nach wie vor nach Tradition der Gründerfamilie Llopis hergestellt.

Heute ist Sitges ein reiner Ferienort. Das städtische Ambiente ist geprägt durch zahlreiche alte Villen im Kolonial- oder Jugendstil. Gebaut wurden sie teilweise von Rückkehrern aus den ehemaligen spanischen Kolonien Kuba und Puerto Rico. Diese americanos, wie sie von den Einheimischen genannt wurden, investierten ihre bis zur Kriegsniederlage Spaniens 1898 angehäuften kolonialen Reichtümer nun in ihrer alten Heimat. Nicht wenige dieser Häuser dienen heute als halbwegs erschwingliche Bleibe für Reisende, die das Besondere lieben, etwa das Renaixença oder El Xalet.

Vergangenes Jahr feierte die Stadt den 75. Todestag von Santiago Rusiñol – er starb am 13. Juni 1931 in Aranjuez – mit einem ganzjährigen Modernismo-Festival. Der diesjährige Kultursommer ist zwar vorbei, aber Sitges hat auch im Herbst einiges zu bieten. Unter anderem beginnt dieser Tage (4.–14. Oktober) eine neue Ausgabe des Festival Internacional de Cinema de Catalunya (früher das Festival des fantastischen Films). Wenn dann an der palmengesäumten Strandpromenade Passeig Maritim ein kosmopolitisches Publikum flaniert, könnte – ansatzweise – der Geist der modernistischen Feste von Sitges wieder aufleben.

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