Eine Reise ohne Landkarte

„Man schreibt über das, was man beim Blick durchs Fenster sieht.“ Der katalanische Schriftsteller Eduardo Mendoza über den aktuellen Wandel Barcelonas und die heftigen Sprünge von der Industriestadt zur angesagten Touristenhochburg

INTERVIEW GÜNTER HERKEL

taz: Herr Mendoza, letztes Jahr erschien die deutsche Übersetzung Ihres Buchs „Barcelona modernista“, das Sie bereits in den 80er-Jahren gemeinsam mit Ihrer Schwester schrieben. Wie kommt es, dass ausgerechnet Barcelona Ende des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt einer so einflussreichen Bewegung wie des Modernismo werden konnte?

Eduardo Mendoza: Diesen Stil gab es natürlich auch anderswo, vor allem in Paris. Aber für Barcelona und Budapest, Städte, die jeweils die zweite Stadt einer großen Nation gewesen sind und die einen gewissen historischen Protagonismus anstrebten, war diese Entwicklung ein Glücksfall. Dieser Stil erlaubte es ihnen, eine imaginäre Stadt zu konstruieren: Kirchen, Kathedralen, Paläste, Burgen, Mythen. Es war ein sehr praktischer, aber gleichzeitig auch ein sehr literarischer Stil. Damals triumphierten in Barcelona zwei große Bewegungen: der Modernismo und der Anarchismus, zwei etwas exzentrische Erscheinungen. Das half der Stadt, sich in eine moderne Metropole zu verwandeln.

In Ihrem Roman „Die Stadt der Wunder“ beschreiben Sie den Aufstieg Barcelonas zwischen den beiden Weltausstellungen von 1888 und 1929. In jüngerer Zeit hat vor allem die Olympiade 1992 der Stadt ihren Stempel gegeben. Was ist da geschehen?

Barcelona wächst mit großen, heftigen Sprüngen. Die Stadt braucht immer einen Vorwand, um den Kurs zu wechseln. Bei der Weltausstellung von 1888 verwandelte sie sich in der Folge des Modernismo in eine geschäftige Industriestadt, mit großen Industriellenfamilien. Die Olympischen Spiele nutzte Barcelona zur Konstruktion größerer Bauten. Dadurch verwandelte es sich in eine Stadt, die sich der Industrie weitgehend entledigt hat und jetzt eher durch andere Dinge geprägt wird: Tourismus, Zerstreuungskultur – das, was man heute eine „Dienstleistungsstadt“ nennt.

Auf dem Forum der Kulturen 2004 in Barcelona forderte der Schriftsteller Juan Goytisolo mit Blick auf die Immigration neue Formen des Zusammenlebens in den Metropolen. Wie denken Sie darüber?

Es gibt zwei parallele Entwicklungen: Einerseits kommen die Touristen, die Geld ausgeben, die Hotels füllen und lange Schlangen vor Museen produziert. Und andrerseits die Immigranten, vor allem Maghrebiner, Afrikaner. Für diesen Prozess gibt es anders als für den Tourismus keine Vorstellung, wie man Barcelona in eine Stadt der Integration verwandelt.

Die Modernisierung von Barcelona hat einen hohen Preis. Bei Sanierungsprogrammen wie im Raval, im Barrio Chino, gewinnt man den Eindruck, es handle sich um einen Rausch von Sozialhygienikern.

Da ist was dran. Was das Raval angeht, bin ich kein Nostalgiker. Es war für manche recht unterhaltsam, durch ein paar dunkle Gassen voll Schmutz und Nutten zu streifen. Aber hinterher kehrte man doch gern in sein sauberes Viertel zurück, voll Kindern, die zur Schule gehen. Die Sanierung ist schon notwendig, man muss sie nur richtig machen. Natürlich wurden Fehler begangen. Aber ich glaube nicht, dass im Fall des Raval die Spekulation, die man wittert, eine große Rolle gespielt hat.

In Ihren letzten Romanen, zum Beispiel in „Mauricios Wahl“, nähern Sie sich stark der Aktualität an. Manche fordern schon das ultimative Meisterwerk über das nacholympische Barcelona des neuen Jahrtausends. Ist es dafür noch zu früh?

Ich nehme mir nicht vor, ein Meisterwerk oder ein Werk über ein Jahrhundert abzuliefern. Mit „Mauricio“ und den Folgewerken bin ich stärker in der Aktualität angekommen. Man schreibt über das, was man beim Blick durchs Fenster sieht. Jeder Roman ist eine Reise ohne eine Landkarte.

Wie sehen Sie den Konflikt über die Identität der katalanischen Kultur, den es vor der Buchmesse gegeben hat?

Ich glaube, die Vorbereitung war nicht gelungen. Man hätte eindeutiger sagen sollen, dass man die Vertreter der katalanischen Sprache einladen wolle. Das wäre gut gewesen, denn das Katalanische ist eine Sprache mit literarischer Tradition und lebender, aktiver Gegenwart. Das hätte das Problem gelöst. Aber die „katalanische Kultur“? Das sprengt dann doch ein wenig den Rahmen der Buchmesse. Jetzt tritt als Gast die katalanischsprachige Literatur auf. Und das ist auch gut so.