Bis ans Ende der Anderswelt

Heinrich Böll, „Irisches Tagebuch“. dtv 1961, 137 S., 6 Euro Brenda Ní Shúlleabháin (Hrsg.), „Bibeanna. Memories from a Corner of Ireland“. Mercier Press 2007, 350 Seiten, 19,99 Euro Ralf Sotscheck, „Gebrauchsanweisung für Irland“. Piper 2004, 199 Seiten, 12,90 Euro Thoms O’Crohan, „Die Boote fahren nicht mehr aus. Bericht eines irischen Fischers“. Übers. von A. und H. Böll. Lamuv 2006, 267 Seiten, 9,90 Euro Sylvia Botheroyd, „Irland. Mythologie in der Landschaft. Ein Reise- und Lesebuch“. Häusser 1997, 368 Seiten, 20 Euro Brüder Grimm, „Irische Elfenmärchen“. Insel Verlag, Frankfurt 1987, 257 Seiten, 9,50 Euro Gerhard E. Sollbach (Hrsg.), „St. Brendans wundersame Seefahrt“. Insel Verlag, Frankfurt 1987, antiquarisch The Dingle Bookshop, Green Street Dingle, Tel. +35 36 69 15 24 33, www.dinglebookshop.com

Der Mönch Brendan suchte einst eine Insel ohne Schwäche und ohne Tod. Er fand sie im Südwesten Irlands. Eine Fahrt durch ein keusch-mystisches Postkartenmotiv

AUS DINGLE GINA BUCHER

Hoch oben auf der Klippe schweift der Blick weg. Weit in die Ferne, an den Horizont, der sich glitzernd über das Ende der Welt kräuselt. Leicht lässt sich hier die Scheibe erkennen, auf der die Mönche die Skellig-Michael-Insel im 7. Jahrhundert vermuteten. Unvorstellbar scheint, was Kopernikus vor Jahrhunderten predigte. Das Ende der Welt ist, wenn nicht hier, dann dort.

Die Hügel sind Teil der Dingle-Halbinsel im Südwesten von Irland. Einzig eine Handvoll Inseln liegt weiter und setzt Europas westlichste Grenze im schäumenden Atlantik. Der Blick nach rechts in den Norden erfasst die Bucht von Clogher Head. Gierige Wellen lecken an den dunkelbraunen Klippen, die wie angeschnittene Torfkuchen in der Landschaft stehen. Eine leichte Drehung weiter nach rechts rückt, hinter den saftig grünen Weiden, Mount Brendan ins Blickfeld. In brauner, unförmiger Statur, umhüllt von sphärischen Wolken, fordert er Ruhe und Ehrerbietung auf der Halbinsel, die einem ständigen Sturm ausgesetzt scheint. Weiter nach rechts, im Osten, eine schmale Straße, die sich an der Küste in Richtung Slea Head entlangschlängelt. Kurz vor Vollendung des Panoramas erblickt man im Süden die Blasket Islands.

Öffnet sich der Himmel, liegt, während man immer noch auf dem Klippenvorsprung steht, plötzlich ein toter Mann im Meer, die Arme über der Brust gefaltet. „Dead Man“ nennen die Einheimischen Fremden gegenüber eine der Blasketinseln, „An Fear Marbh“ heißt sie für Eingeweihte. Unten am Meer, am schier unendlichen Strand von Smerwick Harbour, gibt es gleich mehrere tote Männer zu beklagen. Bis heute höre man das Wehklagen um jene irischen und spanischen Soldaten, die 1580 während dreier Tage von den Engländern niedergemetzelt wurden.

So steht man da und setzt sich den Elementen aus, dem Wind, der die Gischt von unten in Regen von oben verwandelt, und fühlt sich berauscht. Zu wenig glücklich mit den Angeboten der Naturwissenschaften, offen für geheimnisvolle Sagen, für Feen, überirdische Wesen, Heilige und Unholde, ist man in dieser mythologisch aufgeladenen Landschaft bereit, sich kompromisslos der Fantasie auszuliefern.

Dort drüben soll die Anderswelt sein. Die weiche Hügellandschaft liegt im Gegenlicht, die Sonne spiegelt die Wasseroberfläche. Fast verschwinden die Hügel im Dunst. Die Anderswelt ist eine platte Übersetzung für den Ort, der die keltische Inselmythologie dominiert. Das Irische umschreibt mit vielen Namen die geheimnisvolle Parallelwelt, die unsere linearen Zeit- und Raumdimensionen nicht kennt. Was gestern war, kann morgen sein, morgen war gestern und nie vielleicht jetzt gerade. Je nach Erzählung ist es das Land unter den Wellen (Tír fa thonh), des (ewigen) Lebens (Tír na mBéo), der Frauen (Tír na mBan), der Verheißung (Tír tairngire) oder der ewigen Jugend (Tír na nóg). Irische Mönche bannten erst um das 10. Jahrhundert die Anderswelt und ihre Geschichten – inklusive einiger Schwindeleien und zahlreicher Beschönigungen – auf Pergament. Sie integrierten christliche Elemente und wandelten heidnische Gestalten in böse. Die Anderswelt ist dort drüben, aber auch immer ein bisschen hier. Der Übergang von der einen Dimension in die andere ist ein einziger Balanceakt.

Diesen idealen Voraussetzungen zum Trotz zogen dennoch einige Eroberer von hier in die Welt und suchten das Paradies in weiterer Ferne. Der Mönch Brendan reiste im 10. Jahrhundert fünf Jahre lang über die Weltmeere, um seine Vision, eine Insel frei von Sühne, „ohne Schwäche, und ohne Tod“ zu finden. Leider war es ihm nicht vergönnt die Insel zu betreten, weil er mit einem Lederboot unterwegs war – das Tierblut erzürnte die Götter, klärte man ihn nach seiner Rückkehr auf. Ein zweites Mal zog er aus, dieses Mal besser vorbereitet, mit einem Holzboot, einem Curragh, wie man bis heute noch einige auf der Halbinsel sieht. In der „Navigatio Sancti Brendani abbatis“, dem Genre des religiösen Abenteurromans verpflichtet, erzählt er seine Erlebnisse. Bis ins 18. Jahrhundert war die Insel, die Brendan – jetzt der heilige Brendan von Clonfert – damals entdeckt haben will, auf Seekarten verzeichnet. Und tatsächlich belegt in den 1970er-Jahren ein Forscher, dass Meeresströmungen die Mönche im Curragh bis an die Küste von Neufundland geschwemmt haben könnten.

Der Blick nach hinten, wo sich der Mount Brandon aus dem Licht schält, holt die Gedanken auf die Erde zurück. Dorthin, auf den zweithöchsten Berg Irlands, zog sich Brendan nach seinen Lehr- und Wanderjahren und vor seiner Entdeckungsreise zurück, um über seine Lebensaufgabe zu meditieren.

Mit seinen 952 Metern dominiert der Berg die Halbinsel von Dingle. Auf der Südseite schlängelt sich die Passstraße über den Connorpass. Die Märchenlandschaft ist hier felsiger und steiniger als an der Küste. Eine Kraterlandschaft mit anthrazitfarbenen Seen, die terrassenartig, fast wie von Menschenhand geschaffen, in der Landschaft liegen. Ähnlich dunklen Glasplatten spiegeln sie die Wolken und konkurrieren mit dem Himmel. Man will nicht wissen, wie tief die Wasser sind. Geschweige denn, welche Kreaturen darin Zuflucht finden könnten. Starrt man lange genug auf die steinige Mondlandschaft, fällt es einem leicht, Pooka, einen Tiergeist in Pferdegestalt, zu erkennen. Träfe man ihn an, würde er einen in Blitzgeschwindigkeit über die Halbinsel in die Anderswelt und zurück bringen.

Kurz hinter einer der engen Kurven, einige Meter oberhalb der Straße verbirgt sich eine weitere Terrasse mit einem kleinen See. Nur wer von ihm weiß, steigt über die glatten, unförmigen, mit Moos und Flechten bewachsenen Steine und entdeckt eine Arena, wie für Götter geschaffen. Ruhig plätschert der See, spült Bedenken, wäscht Sorgen weg. Mitten in der Anderswelt scheint man zu stehen.

Im linken Augenwinkel aber zucken unmerklich Lichter, die eine leise Vorahnung herantragen. Nur langsam und beruhigend sanft ziehen sich ab und zu Risse durch das perfekte Panorama. Nicht etwa solche, die nötig sind, um eine Geschichte durch Glaubwürdigkeit zu bereichern und Naivität zu zerstreuen. Sondern Risse, die die Fahrt durch das Postkartenmotiv verzerren. Risse, die Fragen stellen. So sehr, dass die keusche Landschaft nicht mehr in die Sphäre des Göttlichen rückt, sondern plötzlich an ein einziges überdimensionales TV-Studio erinnert.

So verdächtig unberührt, so verdächtig gewaschen wirkt alles plötzlich. Die drei toten Schiffe, die sich bei Ebbe in der Bucht bei Dingle im Schlick präsentieren, die sorgfältig drapierten Inseln, die perfekt abgestimmte Beleuchtung, die minütlich wechselt. Die verlassenen Häuser, wie Kulissen für einen Film, der vor Jahrzehnten gedreht und mittlerweile von einer Kinemathek zu schützenswertem Kulturgut erklärt wurde.

Die Ruinen säumen also die Straße und gedenken der vielen, die hungrig flohen. Weiter als bis ans Ende der Welt, in der Hoffnung, nicht das Paradies, aber immerhin das Ende der Hölle zu finden. Die nackten Grundmauern und die abgedeckten Dächer erinnern an traurige Geschichten, die man gern vergessen würde. Weil sich Überlebende immer irgendwie schuldig fühlen, wie Brenda Ní Shúlleabháin vermutet. Die hier Geborene kennt die Halbinsel wie ihre Westentasche und weiß vieles, was andere allmählich vergessen. Die Publizistin initiierte das Bibeanna-Projekt, das das Leben von zwanzig Frauen der Dingle-Halbinsel dokumentiert. Einige der Befragten reisten als junge Frauen in das ferne Amerika, um Geld für die Daheimgebliebenen zu verdienen, während sich ihre Männer und Söhne um die wenigen Farmen zu Hause kümmerten. Andere erlebten die Evakuierung der Blasketinseln, die 1953 per Regierungsentscheid geräumt wurden. Allen ist gemein, dass sie den Einzug der Moderne erlebten, vor dem auch diese Märchenlandschaft nicht gefeit war. Jetzt kleben die verlassenen Häuser wie Skelette an den Hügeln, beobachten seelenruhig und dienen vermutlich als Versteck für Wesen der Anderswelt. Für Banshee, zum Beispiel, der Feenfrau, die klagend um die Häuser schleicht und den Tod eines Familienmitglieds ankündigt. Oder für den gefürchteten Cluricaun, der trunksüchtig und boshaft lauert, wo Alkohol lagert.

Zurück in der wirklichen Welt, geht es mit dem Jeep in Richtung Brandon Bay. Der Strand zieht sich von rechts nach links in die Unendlichkeit. Kurz davor, am Brandon Point, führt ein Weg hoch hinauf und weiter nach hinten zum Mount Brandon, der gelassen die Route beobachtet. Dort fällt die Küste fast ins Wasser. Manannan mac Lir, der Meeresgott, flüstert mit dem Wind neue Geschichten von übermütigen Berggeistern und Waldweibern. Besser, man glaubt ihm, schließlich ist er oberste Autorität der Anderswelt. Mit aller Kraft demonstriert er sein Können, lässt die Wolken einander jagen, besänftigendes Licht das Farbspektrum des Wassers wecken und den Wind rauschen.

Das Schauspiel nimmt ein jähes Ende, als die Wolken brechen und Sonnenstrahlen die Erde fluten. Das Bild zerreißt vollends, sobald das Sonnenlicht wie Scheinwerfer die Aufmerksamkeit auf zwei Servicewagen von EIR-COM lenken. Drei Arbeiter der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft reparieren einen Anschluss mitten auf der Straße, die direkt hinter dem Strand hindurchführt. Für eine dünn besiedelte Gegend behindern sie auffällig oft die Straßen. Der Gegenspieler jenes Instinkts, der sich so gerne den Elfengeschichten hingeben möchte, lässt Misstrauen aufkommen. Sind die Servicewagen nicht vielleicht eher für den Unterhalt des größten Fernsehstudios Europas zuständig?

Die Glaubwürdigkeit blättert, nicht aber das Bemühen, sich weiter kompromisslos der Landschaft hinzugeben, sich demütig vor der übermächtigen Natur zu verneigen und das Ende der Welt als solches zu akzeptieren. Unbeirrt konzentriert sich der Blick ein weiteres Mal auf die saftigen Wiesen, die zart in allen Grüntönen funkeln. Das smaragdgrüne Moos und die hellen Farne kitzeln alle Vorurteile, lassen Hoffnung keimen und der Welt Frieden wünschen.

Flug: Über Kerry Airport mit Ryanair (Frankfurt-Hahn/London) oder Aer Arann (Dublin), www.kerryairport.ie Bus: Bus Eireann, www.buseireann.ie Fähre: Irish Ferries (www.irishferries.com), Shannon Ferries (www.shannonferries.com) Pubs: Paul Geaney’s, Main Street Dingle, Tel. +3 53 66 915 12 38 Foxy John’s, Main Street Dingle, Tel. +35 36 69 15 13 16 O’Flaherty‘s Pub, Bridge Street Dingle, Tel. +35 36 69 15 19 83 Paidi O’Shea’s Pub, Ventry, Tel. +35 36 69 15 90 11 B&Bs über www.dingle-peninsula.ie The Blasket Centre, Dún Chaoin, Tel. +35 36 69 15 64 44 Dingle Tourist Office, Strand Street Dingle, Telefon +35 36 69 15 11 88, April bis Oktober, Mo.–Sa. 10–18 Uhr geöffnet (geschlossen 13 bis 14.15 Uhr), Mai bis Sept. auch sonntags geöffnet

Die Passstraße, die so angenehm über den Berg führte, wirkt im Abendlicht kitschig schön. Die Fantasie gibt sich plötzlich bezähmt, gesteht Kompromisse zu und akzeptiert den Vergleich einer pathetischen Autowerbung. Hinter dem Berg liegt Dingle, das Epizentrum der Halbinsel, das fast ausschließlich aus makellosen Fassaden besteht. In standardisierter keltischer Schrift werben die Pubs um Besucher, die sich in den abgeschiedenen Trinkerkojen hinter den Kulissen verlieren werden. Oh it’s lovely! Einige Whiskeys später wird der Rückweg zum Umweg, die Auflösung von Zeit und Raum der Anderswelt real erlebbar. Über Slea Head, die Südwestspitze der Dingle-Halbinsel, gelangt man nach Dunquín, der Ablegestelle zu den Blaskets.

Wind und Wetter schützten die größte der Inseln, An Bhlascaod Mhór, vor Besuch. Zwischen Hier und Dort liegt eine Meile wütendes Meer mit tobender Gischt – oder prosaischer: die gefährlichste Meeresströmung Europas. Ganze Bootsladungen mit Touristen wollen sommers die entleerten Inseln besuchen.

Auf den Inseln gibt es nicht viel mehr als pure Natur und ein paar verlassene Häuser zu sehen. Die aber wissen eine Geschichte zu erzählen. 1941 verließ der letzte Lehrer die Insel, in den 1950er-Jahren gaben die verbliebenen 24 Einwohner sie auf. Die Regierung arrangierte die Evakuierung. Die Lebensbedingungen der Ärmsten wurden als unerträglich, zu armselig für das aufstrebende Festland taxiert. Seither leben nur noch die Geister der einstigen Inselbewohner in den entvölkerten Häusern. Ein Blick durch das Fernglas bebildert die Erzählungen von Thomas O’Crohan, der als einer der Laiendichter das einfache Leben auf der Insel eindrücklich beschreibt.

Hinter der nächsten Kurve wieder ein obligater Riss. Hinter den Dünen von Ventry liegt ein verlassener Campingplatz mit ausrangierten Caravans. Ein Abenteuerspielplatz, der der Fantasie einen schönen Kontrast zur lieblichen Elfenlandschaft bietet. Gefleckte Felle, vertrocknete Topfpflanzen, zerrissene Vorhänge und verstaubte Gitarren bilden das Innenleben der Wohnwagen. Seltsam belebt fühlt es sich auf dem toten Platz an. Durchaus möglich, dass sich auch hier erzürnte Elfen und ausgeschiedene Geister vergnügen. Einige Meter weiter ist der Spuk vorbei, die vertraute, mit Gras überzogene Steinlandschaft wieder dominant. Die unwirklich anmutenden Steinhaufen auf den Feldern, auch Feenhügel genannt, sind ein Tribut an jene Feen, die kleine Buben stehlen und dafür einen Balg zurücklassen. Die besorgten Bauernfamilien verkleideten die Knaben deshalb so lange wie möglich als Mädchen.

Am Straßenrand weiden Schafe und präsentieren sich hübsch als unentbehrliches Fotomotiv. Erst mit der Zeit fällt der Fehler auf, der sich abermals wie ein Schatten in die Szenerie schleicht. Die Schafe, einmal pink, einmal blau, ein andermal grün besprayt, stehen seltsam surreal wie ausgesetzte Punks in der lieblichen Landschaft. Nach zweihundert Kilometern Küste, die die Halbinsel umschließen, ist das Wetter weg, bleiben die Fragen.

Einzig klar scheint, warum die Iren nie selbst eroberten, nur immer auf der Flucht in See stachen. Auf der Flucht vor dem Hunger, auf der Suche nach einer noch perfekteren Insel. Berauscht von so viel Pathos, möchte man nach den Sternen greifen und bleibt im Nebel hängen, der sich plötzlich, wie aus dem Nichts, wieder über die Insel senkt. Wohl gebietet sich Ehrfurcht vor den Göttern, wer auch immer sie sein mögen, die diese Welt erschufen und ihr zumindest das geografische Ende verwehren.

GINA BUCHER, Jahrgang 1978, ist gar keine Irin, sondern Schweizerin. Aber gerne mal in Irland