Tausendundeine Geschichte in der Ödnis

NORDSYRIEN Ökowanderwege sollen Touristen anlocken und die lokale Bevölkerung unterstützen. Ein Schweizer Projekt weckt das Interesse der Unesco an der Ruinenlandschaft der Toten Städte

Broschüren: Einen guten Überblick über Wanderwege, Ruinen und Anfahrt gibt die Broschüre „Hiking Trails in the Forgotten Cities“, zu beziehen über die Deza in Damaskus: www.sdcdamascus.net.sy, www.mores.com.lb

■ Anfahrt: Zu erreichen sind die Toten Städte von Aleppo aus in etwa 50 Minuten. Da bislang nur örtliche Sammeltaxis in das Gebiet fahren, sollten Besucher über ihr Hotel oder ein Reisebüro in Aleppo ein Auto mit Fahrer mieten.

Graue Steine, Geröll, Gestrüpp. Furchtbar, dachte Elisabeth Diethelm, als sie vor vier Jahren zum ersten Mal hierher kam. Die sportliche Schweizerin steht auf einer Anhöhe bei Kafr Nabo, einer kleinen Siedlung, 30 Kilometer nordwestlich von Aleppo. „Je länger man die Gegend kennt, desto schöner findet man sie“, sagt sie. Tatsächlich bietet die eintönige Landschaft nahe der Grenze zur Türkei eine Zeitreise durch vergangene Zivilisationen: Byzantiner, Römer und Griechen haben hier Spuren hinterlassen. Keine archäologisch aufgearbeiteten und touristisch erschlossenen Stätten, sondern alltägliche Gebäude, die scheinbar zufällig in der Landschaft stehen. Sie sind Zeugen einer Zeit, in der die Gegend dicht besiedelt und hoch entwickelt war. Doch vor etwa 1.500 Jahren wurden die Städte verlassen; aus welchem Grund, ist Archäologen und Historikern bis heute ein Rätsel. Seitdem trägt das wasserarme Gebiet den Beinamen „Tote Städte“, obwohl in einzelnen kleinen Siedlungen durchaus Menschen leben – unter schwierigen Bedingungen, mancherorts ohne Strom und fließendes Wasser.

Die einheimische Bevölkerung soll nun von einem Projekt profitieren, das Elisabeth Diethelm im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) umsetzt, einer Agentur des Schweizer Außenministeriums. Zwischen den Ruinen sind Wanderrouten entstanden, die einen „sanften Tourismus“ ankurbeln sollen, erklärt die Deza-Koordinatorin. Angeregt durch das Schweizer Engagement, interessiert sich inzwischen auch die Unesco für die Toten Städte. So könnte aus den Wanderwegen ein Vorzeigeprojekt werden. Auf breiten, mit Steinen markierten Trampelpfaden laufen Besucher durch die teils hügelige Landschaft und stoßen dabei auf die verfallenen Gebäude. Einzelne Bauwerke werden in einer von der Deza mit herausgegebenen Broschüre erklärt. Bernhard Hack, ein in Aleppo lebender Österreicher, ist als einer der ersten Europäer weite Teile der Wege gegangen und hat dabei byzantinische Kirchen, römische Gräber, griechische Schriftzeichen, Zisternen, Villen und Kellergewölbe entdeckt. „Seit 1.500 Jahren stehen diese Kalksteinbauwerke in der Landschaft, und das Leben der Einheimischen läuft daneben ganz normal weiter“, schwärmt Bernhard Hack. „Mancherorts wirkten die Toten Städte so, als ob sie gestern erst verlassen worden wären.“

Beeindruckt von den Toten Städten war auch der ehemalige Schweizer Botschafter in Syrien, auf den das Projekt zurückgeht. Als leidenschaftlicher Wanderer habe er das Gebiet privat besucht und irgendwann angeregt, Wege anzulegen, erzählt Deza-Vertreterin Diethelm. Die Entwicklungsexpertin, die seit vier Jahren in der Region lebt, machte aus der Diplomatenidee ein Förderprojekt, das den Vorstellungen von Ökotourismus entspricht und dabei auf die Bedürfnisse der Einheimischen eingeht. Da diese Form des sanften Tourismus in Syrien bis dahin Neuland war, beauftragte Diethelm die libanesische Umweltorganisation Mores mit der Umsetzung. 152.000 US-Dollar haben die Schweizer inzwischen in das Projekt investiert.

Am Ortseingang von Kafr Nabo beginnt einer der insgesamt drei Wege. Diethelm zeigt auf einen massiven grauen Steinblock, der als Übersichtskarte dient. Fünf Orte sind darauf eingezeichnet und, in leuchtendem Rot, die Wege, die sie verbinden. Sie verlaufen auf jahrhundertealten Pfaden, die teilweise erst wiederentdeckt werden mussten. Dabei hätten die älteren Bewohner der Gegend geholfen, erklärt Naji Hamoud Saleh, der syrische Vorarbeiter. „Es gibt hier Leute, die um die 100 Jahre alt sind. Wir haben sie auf Traktoren mitgenommen, und sie haben uns vor Ort gezeigt, wo die Wege entlangführten“, erzählt er. Abu Ahmads Haus besteht aus zwei großen Räumen, einem für Gäste und einem für die zehnköpfige Familie. „Wir mögen Touristen“, betont der stattliche Mann mit den freundlichen Augen. „Sie können bei uns essen und Tee trinken und, wenn Sie möchten, auch übernachten“, so das Familienoberhaupt. Genau solch ein Engagement wünscht sich Elisabeth Diethelm. Eine Deza-Studie ermittelt derzeit, wie die Bevölkerung langfristig von den Wanderwegen profitieren könnte, etwa indem sie Transport, Verpflegung und Unterkunft der Touristen organisiert.

Die Wanderer sollten etwas Erfahrung und Kondition mitbringen, rät die 59-Jährige. Zwar falle die Orientierung in der weiten, kargen Landschaft leicht, zumal auf einem Hügel und somit weithin sichtbar die viel besuchte Ruinenanlage des Simeonsklosters liegt, aber die Besucher seien ganz auf sich selbst gestellt, warnt Diethelm. „Wenn etwas passiert, ist nicht in zehn Minuten der Krankenwagen hier.“

Diese Form des sanften Tourismus, des Wandertourismus, ist in Syrien bislang Neuland

KRISTIN HELBERG