Wir Globetrottel

Horizonte Immer schneller um die Welt. Fünf Thesen zu unserer ungebremsten Reiselust und Reisepraxis und für ein besseres Leben

VON CHRISTEL BURGHOFF
UND EDITH KRESTA

1. Der Konsumismus hat sich durchgesetzt. Konsumismus ist die vorherrschende Haltung zur Welt geworden. H., Oberstudienrätin, machte mindestens eine Fernreise pro Jahr – neben vielen kleinen Trips während ihrer kürzeren Schulferien. Doch das war nur der Anfang ihrer ungebremsten Reiselust. Seit ihrer Pensionierung ist sie nicht mehr zu halten: Indien, Island, Iran, Bali, Thailand, Marokko, Türkei, Israel, Vietnam … Um sich erinnern zu können, wird exzessiv geknipst. Außerdem legt sie Wert auf geschmackvolle Mitbringsel, exotische Kleidung oder ungewöhnlichen Hausrat. Mit ihrem Vorrat an Fotomaterial könnte sie tausende Stunden Diavorträge bestreiten. Kämen ihre Kollegen U., Aktivistin der Grünen, und N., Gewerkschaftsfunktionär, dazu, die jährlich mindestens drei Fernreisen machen, könnten sie ihre letzten Lebensjahre in fremden Fotowelten verbringen – ohne je einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Keine Reise, die wirklich zufriedenstellt. Die Ruhe bringt. Keine Rede von Glück. Wir kaufen immer schneller und öfter eine Reise und damit etwas, was vielleicht nicht wirklich käuflich ist. Und nichts scheint uns absurder als die Frage nach dem Warum dieser Instantreisen.

2. Beschleunigung regiert die Welt. Wir tun es dem Geld gleich, das heutzutage um die Welt rast. Wir surfen von Horizont zu Horizont – immer an der Oberfläche, ohne Tiefgang. Wir kaufen uns schön präsentierte Welten, geleitet von versierten Reiseleitern und globalisierten Veranstaltern. Reisen, die von aller Mühsal, allen Unsicherheiten entschlackt sind.

Die Welt ist seit der Industrialisierung auf ein Sechzigstel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Zumindest rechnerisch, wenn man die moderne Transportgeschwindigkeit von Menschen und Gütern zu den zurückgelegten Entfernungen ins Verhältnis setzt. Und sie wird auch so wahrgenommen. Heute spricht man von Flugstunden, wenn Distanzen gemeint sind.

Konnten die Urlauber der Nachkriegszeit noch gemächlich ihren Erholungssommerurlaub machen, noch halbwegs das Gefühl haben, an den Stränden des Mittelmeers die kostbarsten Wochen des Jahres zu erleben und die Errungenschaften der arbeitenden Bevölkerung zu genießen, so lassen wir uns heute auf nichts mehr ein.

Längst ist die Raserei zum ausgedehnten Forschungsgegenstand von Sozialwissenschaftlern geworden. Und hier fragt man sich, ob nicht bereits der „rasende Stillstand“ (Paul Virilio) erreicht ist. Führend im zeitdiagnostischen Diskurs ist Hartmut Rosa. Seine sperrige Studie erklärt „Beschleunigung“ als strukturbildende Grundtendenz der Moderne. Unmittelbar einleuchtend die Wirkungen des dynamischen Kreislaufs aus Ökonomie, Technik und Kultur, die er beschreibt: Die „Verflüssigungsvorgänge“, deren Logik wir inzwischen leben, lässt niemanden davonkommen. „Slipping Slopes“, rutschende Abhänge, so charakterisiert Rosa den unsicheren Boden, auf dem sich die postmodernen Individuen bewegten. Eine Unsicherheit, die zunehmend Angst generiere. Die Angst nämlich, von der Gemeinschaft der Dynamischen, Mobilen, der Weltläufigen abgehängt zu werden, abzurutschen zu den „Zwangsentschleunigten“, den Ruheständlern, den Rückständigen, den Immobilen.

Die Rasenden fürchten jeglichen Stillstand. Und wenn sie ihre persönlichen Grenzen erreichen, dann flüchten sie eher in den Burn-out beziehungsweise die Depression, in die Krankheit unserer Zeit, als bewusst zu entschleunigen.

3. Beschleunigung und Konsumismus sind im Tourismus eine innige Verbindung eingegangen. Die Wirtschaft brummt nur dann, wenn ordentlich Produkte gekauft werden. Radfahren mag inzwischen gesellschaftlich im Trend liegen, bedeutend wird es erst, wenn man dafür nach Vietnam fliegt. Meditation mag ohnehin angesagt sein, aber erst auf Bali erlebt man sie authentisch. Reisen ist eine Frage des sozialen Status. Und erst das richtige, das veredelte Produkt macht den heutigen Menschen wichtig. Und wer will das nicht sein?

Tourismus maßt sich an, uns jene Sensationen, Gefühle, Authentizitäten, Zugehörigkeiten zu bieten, die wir im heimischen Alltag vermissen. Jedes Reisepaket, das über den Ladentisch geht, ist auch ein Ticket, das uns für die schnelle, dynamische Gesellschaft profiliert. Globetrottel statt Globetrotter.

4. Tourismuskritik ist von gestern. Zwar gehören Mäkeleien über Touristen von jeher zum „guten Ton“ von Eliten, die sich gern über „Massenhaftigkeit“ der niederen Stände mokieren – aber mit der Alternativbewegung kam ein anderer Zungenschlag auf. Den Kritikern der siebziger und achtziger Jahre galten Touristen als dumpfbackige Täter, die auf ursprünglichen Landschaften bzw. den Gefühlen Einheimischer herumtrampeln. Touristen galten aber auch als Opfer, als Verführte der Industrie, die leichtgläubig den Werbebotschaften vom Duft der großen, weiten Welt folgten und sich doch nur abgeschmackte Erlebnisse holten. Tourismus wurde nun als eine Industrie wie jede andere wahrgenommen, die kolossale Umweltschäden verursacht. Entgegen ihrem Image als weiße, saubere Industrie musste sich die Tourismusindustrie sagen lassen, dass sie hemmungslos Land, Leute und Ressourcen verbraucht. Inzwischen sind kritische Stimmen kaum noch hörbar. Übrig blieb die Klima- und Ressourcenthematik. Sie macht heute den Kern jeder Tourismuskritik aus. Sensible, ökobewegte Mittelschichtskreise reagieren darauf mit Versuchen modernen Ablasshandelns, beispielsweise mit einer CO2-Abgabe fürs Fliegen – sofern sie für ihren Urlaub nicht alle fünf gerade sein lassen und ihren ökologischen Fußabdruck schlicht ignorieren.

5. Die Qualitätsdiskussion ist in der touristischen Branche angekommen. Es geht wie beim Trinken und Essen um das gute, geläuterte Produkt. Es gibt Reiseveranstalter, die Intensität, Begegnung und Entschleunigung auf ihre Fahnen geschrieben haben und sie dann in der teueren Luxusvariante verkaufen. Und auch in der Tourismusindustrie ist längst die Erkenntnis angekommen, dass künstliche Welten kitschig und auf Dauer langweilig sind. Künstliche Welten werden heute möglichst mit „echtem“ Leben gefüllt.

Es gibt aber auch Unternehmen, die auf soziale Verantwortung und faires Reisen setzen, die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit diskutieren. Alternative Veranstalter, bei denen sich die Qualitätsdiskussion nicht im teuren, anspruchsvollen Design der Reise erschöpft. Vor allem dieser Reisemarkt hat sich breit aufgefächert: Die Angebotspalette reicht vom Klettern über den Fotokurs bis zum philosophischen Seminar.

Und es gibt Erzählungen – die häufig auf den Bestsellerlisten landen – von der tiefen Befriedigung langsamen Reisens. Der intime Kontakt mit der Wirklichkeit. Glücksuche. Flow. Zeit für Erotik. Zeit für Muße. Und Zeit für Erlebnisse, die sich so als Erfahrungen verankern können.

Kein Wunder, dass unter den suchenden Reisenden viele Esoterikanhänger sind, etwa die Pilger des Jakobsweges wie Paulo Coelho, Shirley MacLaine und nicht zuletzt Hape Kerkeling. Ihre Nähe zur „sakralen Zeit“ lässt sie souverän gegenüber der Hektik modernen Lebens erscheinen. „Die Einzigen, die derzeit über ein schlüssiges Entschleunigungskonzept verfügen, das sind die Taliban“, äußerste sich auch Hartmut Rosa in einem Gespräch. Wollen wir wirklich den Religionsanhängern, egal welcher Coleur, das Entschleunigungsthema überlassen? Oder nicht doch besser die Diskussion über faire Reiseformen, über ein anderes, nachhaltigeres Reisen, beschleunigen?