Keine Zuflucht für Psychiatriegeschädigte

Das „Weglaufhaus Initiative Ruhrgebiet“ (W.I.R.) mit Sitz in Bochum feiert heute ihren zehnten Geburtstag. Ein Haus für Psychiatriebetroffene ist jedoch noch nicht in Sicht. W.I.R.: „Kranke brauchen Gespräche statt Psychopharmaka“

BOCHUM taz ■ Wenn Menschen psychisch erkranken, können sie kein selbstbestimmtes Leben mehr führen, kritisiert die Weglaufhaus Initiative Ruhrgebiet (W.I.R.). „Es muss die Möglichkeit geben, dass Betroffene selbst entscheiden können, ob sie Medikamente nehmen wollen oder nicht“, sagt Berater Matthias Seibt. Weil die Psychiatrien in Deutschland nichts anderes als medikamentöse Behandlungen anbieten, bedürfe es einer alternativen Zufluchtsstelle.

Seit zehn Jahren nun kämpft die Ruhrgebietsinitiative für ein „Weglaufhaus“ nach Vorbild der bundesweit einzigen Einrichtung in Berlin. Dort werden Menschen aufgenommen, die sich von Neuroleptika und anderen Psychopharmaka befreien wollen. Einzige Bedingung: Um vom Sozialamt den Aufenthalt dort bezahlt zu bekommen, müssen die Betroffenen wohnungslos sein. Zwei psychiatrieerfahrene BetreuerInnen und PraktikantInnen stehen für etwa ein Dutzend Psychiatrie-Geschädigte Tag und Nacht als Gesprächspartner zu Verfügung.

Genau das ist es, was wohl in den Psychiatrien fehlt. „Die Ärzte bekommen mehr Geld für die Verschreibung von Psychopharmaka als fürs Reden“, weiß auch Tillmann Wicker vom Bundesverband für Psychiatrieerfahrene. Auch in der Ausbildung von Psychiatern werde keine alternative Behandlungsmethode aufgezeigt. Das Problem finge schon damit an, dass man sehr schnell sei mit psychiatrischen Diagnosen, die den Auslöser der Krankheit außer Acht lassen: „Statt über die Ursachen des psychischen Leidens zu reden, werden Erkrankungen sofort als Stoffwechselstörung deklariert“, sagt Seibt, der selbst in der Psychiatrie war. Die Pharmaindustrie sei zu mächtig, so Seibt.

Die Erfolgsbilanz des Weglaufhauses Berlin sei zufriedenstellend: Ein Drittel der BewohnerInnen würde in normale Wohnverhältnisse zurückkehren, ein weiteres Drittel in alternativen Modellen wie dem betreuten Wohnen leben. „Nur ein Drittel geht zurück in die Psychiatrie oder wohnt wieder auf der Straße“, sagt Seibt. Und trotzdem: „Ein Weglaufhaus im Ruhrgebiet bleibt für die nächste Jahre eine Utopie“, sagt Mitinitiatorin Anja Tillmann. „Für ein solches Projekt gibt es keine Fördertöpfe“. Dabei seien Landschaftsverbände finanziell in der Lage, eine solche Zufluchtstelle zu unterstützen.

Realistischer sei es aber momentan, für eine bezahlte Beratungsstelle zu kämpfen. Nur zwei Jahre lang sei diese von der Stadt durch ABM-Kräfte möglich gewesen, zurzeit arbeiten im Bochumer Büro mehrere Ehrenamtliche. „Wir könnten ruhig noch mehr sein“, sagt Tillmann.

Heute abend feiert die Initiative ihr zehnjähriges Durchhaltevermögen. Zwei BetreuerInnen aus dem Weglaufhaus Berlin werden um 19 Uhr im AusländerInnenzentrum der Ruhr-Uni über ihre Arbeit berichten, dann gibt es Diskussion und Party, die Initiative lädt alle Interessierten herzlich ein. Für Betroffene bietet neben Einzelberatungen auch ein Kontaktcafé die Möglichkeit, sich zu informieren und auszutauschen. NATALIE WIESMANN

Infos zu Beratung, Kontaktcafé und Initiative: 0234/6405084