Paläste – nicht Hütten

Die Stalinallee ist das östliche Pendant des Hansaviertels. Ein postsozialistischer Spaziergang.

Samstag, früher Abend: Noch ist es ruhig im Sanatorium 23, einer Bar an der Frankfurter Allee, 20 Minuten Fußweg vom Alexanderplatz – im ehemaligen Ostberlin. Sophie Holz sitzt auf einem Kissen aus weißem Kunstleder, in der Hand einen grün schimmernden Cocktail. Die Studentin, geboren im Westteil der Stadt, wohnt seit einem Jahr über dem Lokal. „Das Leben im Kulturdenkmal hat mich immer schon gereizt“, sagt sie. „Gründerzeithäuser gibt es Tausende in Berlin, aber die Stalinbauten hier sind eine Seltenheit.“

Sophie Holz schaut durch das breite Fenster auf die sechsstöckigen Häuser draußen – fast alle saniert, mit goldenen Fensterrahmen, sandfarbenen Fassaden und Kacheln. Einst waren sie Vorzeigebauten der Deutschen Demokratischen Republik, zwischen 1951 und 1957 erbaut, noch vor dem Hansaviertel – ein Schock für den Westen. Stalinallee hieß die Straße damals. Hier demonstrierten 1953 die Bauarbeiter gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen, hier nahm der Aufstand vom 17. Juni seinen Anfang. Seit 1961 heißt der westliche Teil des Boulevards Karl-Marx-Allee, der östliche Frankfurter Allee. „Ich hab meine Wohnung noch nie politisch betrachtet“, sagt Sophie Holz. „Mich hat die Architektur fasziniert.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Gebiet zerstört. Das junge DDR-Regime rief 1951 zu einem Wettbewerb auf, um die Straße neu aufbauen zu lassen. Sechs Architekten, darunter Hermann Henselmann, schufen hier Wohnungen für Arbeiter, rund 3.000 auf über zwei Kilometern. Mächtig wirken die Häuserblöcke und Wohntürme, mit ihren Säulen, Bögen und großen Eingängen, mit Elementen aus Art Deco, Preußischem Klassizismus und sowjetischem Monumentalismus wie in der Moskauer Gorki Straße. Durch die breite Allee weht der Wind. Fünf Minuten kann es dauern, den sechsspurigen Boulevard zu überqueren.

Seit 1990 stehen die Bauten unter Denkmalschutz. Sophie Holz wohnt in einem der letzten unsanierten Gebäude am Ende der Straße. An der Fassade bröckeln die Kacheln, Mauerwerk kommt zum Vorschein. „Dafür, dass das Haus nicht saniert wurde, sind die Wohnungen in einem guten Zustand“, sagt Sophie Holz. „Die Fenster schließen gut. Es ist den ganzen Tag hell. Die Zimmer sind gleich groß und perfekt geeignet für WGs. Außerdem sind die Wände sehr dick.“ 450 Euro warm kostet die 70 Quadratmeter große Wohnung, die sich Sophie Holz mit einer Freundin teilt.

Luxuswohnungen per Los

Das Haus steht im lebhaftesten Teil der Allee. Lachend ziehen Jugendliche mit Bierflaschen vor dem Fenster der Bar vorüber. Ein Pärchen sitzt auf der Bank am Grünstreifen und küsst sich. Junge Leute fahren auf Rädern vorbei. Schräg gegenüber liegt der Simon-Dach-Kiez, ein Kneipenviertel, das in jedem Reiseführer verzeichnet ist. Richtung Alexanderplatz wird es leerer. Auf den breiten Bürgersteigen gehen wenige Menschen, zu hören ist nur der Verkehr der stark befahrenen Straße. Eine tiefgelbe, verschnörkelte Leuchtschrift prangt über dem Café Sibylle mit seinen schlichten Holzstühlen und -tischen. Im hinteren Teil des Cafés dokumentiert eine Ausstellung die Geschichte der Stalinallee und ihrer begehrten Wohnungen, mit Müllschlucker auf jeder Etage, beheizten Treppenhäusern, gefliesten Badezimmern, ein Luxus in der damaligen Wohnungsnot. Wer Trümmer putzte, konnte sich die Teilnahme an der Verlosung der Wohnungen erarbeiten. Fotos zeigen, wie sich die Menschen um die Bauten drängten.

Heute ist von Menschenmengen auf der Karl-Marx-Allee nichts zu sehen. Grellrote Leuchtschriften werben für Restaurants. Ein Küchenstudio, eine Drogerie – andere Geschäfte stehen leer. Ein Laden erstreckt sich hinter vier großen Schaufenstern mit einem roten Aufkleber: „460 Quadratmeter“ steht dort, daneben die Nummer des Maklers. „Früher kamen Menschen aus ganz Ostdeutschland in unsere Allee. Es gab Läden mit Pelzen, eine echte Prachtstraße“, sagt ein Nachbar von Sophie Holz. 1954 hat er seine „Auszeichnungswohnung“ in der Stalinallee bekommen. „Das war eine übliche Sache für die Arbeiter, die gut eingeschätzt wurden“. Wie viele Bewohner der Straße ist er Rentner: Senioren stellen hier über 22 Prozent. Doch die Jungen sind im Vormarsch. In der ehemaligen Stalinallee machen Menschen zwischen 25 und 29 Jahren rund 15 Prozent der Anwohner aus, im Berliner Schnitt sind es nur sieben Prozent. Bis zur Wende betrug der Quadratmeterpreis der Wohnungen eine Mark Ost. Heute ist eine sanierte Wohnung ab 6,50 Euro kalt pro Quadratmeter erhältlich.

Kurz nach 22 Uhr, das Sanatorium 23 ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Zu Sophie Holz hat sich eine Freundin gesellt. „Ich bin in der DDR groß geworden. Alle Häuser hier wurden vom Regime gebaut und von normalen Menschen bewohnt,“ sagt diese. „Ich würde sofort hier einziehen, die Häuser sind wunderschön.“ Draußen auf der Allee spaziert ein alter Mann mit seinem Hund vorbei. Bettina Koller