Wahre Schönheit kommt von Rissen

Instandsetzung statt Lifting: Auch Neubauten brauchen Denkmalpflege

Sonne, Regen, Wind, Hitze und Kälte: 50 Jahre lang haben Wetter und Zeit ihre Spuren auf den Gebäuden des Hansaviertels hinterlassen, besonders auf den Betonoberflächen. Reparaturen standen in den Häusern schon immer an, doch weil das Viertel seit 1995 komplett unter Denkmalschutz steht, ist seitdem jede Sanierung eine spezielle Herausforderung. So stellte sich den Denkmalschützern die Frage, ob das Viertel nur in seiner äußeren Erscheinung oder aber in all seinen Einzelheiten erhalten werden solle. Wegen der hohen künstlerischen Qualität der Entwürfe war der Fall schnell klar: Hier geht es der Denkmalpflege auch um die Details.

Zum Beispiel im Haus von Oscar Niemeyer. Der brasilianische Stararchitekt hatte sich von seiner südamerikanischen Heimat anregen lassen. Deshalb ruht sein Schottenbau aus Stahlbeton auf V-förmigen Stützpfeilern, so genannten Pilotis, die in Brasilien Schlangen von Niemeyers Gebäuden fern halten sollen. Deshalb sieht das Scheibenhaus aus, als schwebe es über dem Boden. Weitere, von außen zu erkennende Besonderheiten sind der freistehende, dreieckige Turm für den Aufzug, die blauen und ockerfarbenen Sichtblenden vor den zurückgesetzten Loggien und markante Fensterbänder, die von den weißen Rahmen gegliedert werden.

Freiliegende Betonarmierungen, abgeplatzter Putz und zahlreiche kleine Schäden an den Wänden der Loggien hatten die Sanierung notwendig gemacht. Bereits Ende der 90er Jahre wurde die Ebene der Stützpfeiler saniert, zwischen 2000 und 2003 dann das gesamte Gebäude denkmalgerecht nach Plänen des Berliner Architekturbüros K4 instand gesetzt. Seitdem strahlt das Haus in neuem altem Glanz. Decke und Stützen des Erdgeschosses wurden grau gestrichen, Oberflächen gereinigt und farblos versiegelt, so dass die ursprüngliche Farbe zu sehen ist – nicht wie frisch gestrichen, sondern etwas blass vom Alter. Feine Oberflächenrisse am Aufzugsturm wurden sogar belassen, da es bauphysikalisch nicht notwendig war, sie zu schließen. Hier sieht nichts aus wie geliftet. Ein Kunstfehler allerdings unterlief ihnen: Bei der Sanierung gingen originale Sichtblenden verloren. Dass sie durch Kopien ersetzt wurden, ist für den Laien nicht zu erkennen. So hat das Haus nichts von seinem exotischen Charme verloren und strahlt noch immer das Flair seiner Zeit aus. So authentisch kann Denkmalpflege sein.

Und doch stellt sich die Frage, ob Denkmalschutz immer Vorrang haben sollte, ob beispielsweise Wohnungen, die heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen, in ihrem ursprünglichen Grundriss erhalten bleiben müssen. Vor 50 Jahren mag eine Dreizimmer-Wohnung für eine Familie mit drei Kindern ausgereicht haben, heute brauchen Menschen offenbar mehr Platz. Das hätte bei der Sanierung vielleicht berücksichtigt werden müssen. Schließlich ist das Hansaviertel kein Museum, sondern soll ein Wohnviertel bleiben, in das auch künftig nicht nur Singles ziehen.

Sabina Bébié