Gratis-Uni am Küchentisch

Der Arbeitskreis Lokale Ökonomie hat die „Freie Uni Hamburg“ gegründet. So wollen Bürger anspruchsvolle Bildung für alle organisieren. Das geschieht in kostenlosen Lerngruppen zu Themen aus Physik, Kunstgeschichte und Philosophie

VON DANIEL KUMMETZ

Barbara Kleineidam hat die Erde fest im Griff. Sie lässt sie um die Sonne kreisen, wie schnell und wie dicht, entscheidet sie. Bei ihr rotiert die Erde ganz nah um die Sonne – in der Realität würde sie verglühen. Doch das ist ihr egal. Ihr geht es um die Ausbreitung von Wellen, die Wahrnehmung von Licht und seiner Geschwindigkeit – sie will ein Experiment verstehen, dessen Ergebnis zur Relativitätstheorie führt. Deshalb lässt sie eine Klebebandrolle als Erde um eine weiße Kerze rotieren, ein Kugelschreiber auf der „Erde“ stellt die Ausbreitung von Wellen dar. Ihr Universum ist eine kleine Küche in der Hamburger Stresemannstraße. Hier sieht es aus wie in einer Studenten-WG: Herd, Mikrowelle, Schränke und Akten sind nebeneinander gestellt, unter der Uhr hängt eine Dartscheibe.

Am Küchentisch sitzt Kleineidam mit vier Mitstreitern. Sie bilden einen Kurs der „Freien Uni Hamburg“. In dem Projekt finden sich Interessierte zusammen und erarbeiten sich ohne Anleitung neues Wissen, die Teilnahme ist kostenlos. Die Selbstlerner haben sich in der vorletzten Woche ein Kapitel aus Stephen Hawkings „Die kürzeste Geschichte der Zeit“ kopiert, haben die vierzehn Seiten zu Hause gelesen und besprechen den Text nun. Wenn nötig, Satz für Satz.

Mit am Tisch sitzt Hilmar Kunath vom Arbeitskreis Lokale Ökonomie Hamburg (AK LÖk), der das Projekt gegründet hat. „Bildung ist zur Ware geworden, das können sich viele nicht mehr leisten“, sagt er. Es wurden Studiengebühren eingeführt und auch die Volkshochschule wurde in den vergangenen zehn Jahren immer teurer. Deshalb verspricht das Programmheft der kleinen Gratis-Uni „anspruchsvolle Bildung für alle“. „Wenn Bildung durch Zwang vermittelt wird, geht die die Neugier verloren. Es verschwindet das Verlangen, etwas lernen zu wollen, einfach um es zu verstehen“, sagt Kunath. Daran wolle das Projekt mit den Lerngruppen anknüpfen. Möglichst ohne Geld dafür zu nehmen.

Das Projekt läuft seit einem Vierteljahr, neben der Astrophysik-Gruppe „Schwarze Löcher“ gibt es fünf weitere Kurse im Programm, darunter eine Trommelgruppe, ein kunsttheoretischer Exkurs mit Rundgängen durch die Kunsthalle und ein Lesekreis zu den Werken des französischen Sozialphilosophen Guy Debord.

Weitere Gruppen werden gegründet – ein Lektürekreis zur Apokalypse des Johannes steht kurz vor dem Start. Und die Uni soll noch weiter wachsen: „Ich kann mir gut vorstellen, dass noch ein paar Angebote dazu kommen, die nicht so einen hohen Anspruch haben wie die bisherigen, sondern für jeden geeignet sind“, sagt Kunath. Die bisherigen Ideen für neue Kurse sind im Programm abgedruckt, das auch im Internet zu finden ist (siehe unten). Wenn sich genügend Interessierte finden, beginnt das Lernen.

Wer eine Gruppe gründen möchte, muss kein Experte sein. Kunath, der die Gruppe „Schwarze Löcher“ initiiert hat, ist Lehrer, aber er unterrichtet nicht Physik, sondern Deutsch, Erdkunde und Politik. Auch die Teilnehmer müssen keine Vorbildung haben: „Diese Bildungsangebote knüpfen an dem jeweiligen Stand der Leute an“, erklärt er. „Die Kleingruppen verabreden ein Niveau, das ihnen gemäß ist.“

Die Teilnehmer der Lerngruppen sind zwischen elf und 70 Jahre alt. Die meisten haben Abitur, aber das soll keine Voraussetzung sein. Kunath möchte mit seinem Projekt weder den Universitäten noch den Volkshochschulen Konkurrenz machen. Ziel ist, dass sich das Projekt von selbst trägt. „Ich möchte erreichen, dass es ohne äußeren Anstoß, ohne Werbung weiterläuft“, sagt Kunath. An dem Punkt wäre die Freie Uni noch nicht, aber dies sei ein „realistisches Ziel“.

Andere Projekte des AK LÖk haben zwischen einhundert bis vierhundert Nutzer pro Woche. Die Freie Uni Hamburg hat bisher rund 40 Studenten. Finanziell getragen wird das Projekt von Kleinspenden. Deshalb lernt die Gruppe in der Küche des „Kleinmöbellagers“, einem anderen Projekt des Arbeitskreises. Und deshalb müssen sie sich auch mit Kerze, Kuli und Klebeband begnügen, um die Relativitätstheorie zu verstehen.

Neue Kursideen und Interessierte sammelt die „Freie Uni Hamburg“ auf www.neue-arbeit-hamburg.de