Rekonvaleszent auf Radtour

TOUR DE FRANCE Das Rennen 2009 könnte fürchterlich werden: Niemand will diesmal dopen, jedes Team auf die eigene Kraft vertrauen und sauber bleiben. Wie soll das nur gehen?

Unerklärlich viele Fahrer klagten damals über Bronchialbeschwerden. Der Inhaltsstoff wurde erst 1971 in Deutschland verboten

VON JÜRGEN FRANCKE

Das größte Radsportereignis der Welt steht vor der Tür, doch wer interessiert sich eigentlich noch dafür? Mehr, als wir denken. Die Fahrer und ihre Rennställe ganz bestimmt. Die verdienen ihr Geld mit der Tour de France. Und die Sponsoren auch. Die Werbewirtschaft profitiert, unzählige Medien haben etwas zu berichten. Und dann freuen sich noch die Ankunfts- und Zielorte, die Ausrüster, die Banken und Versicherungen und natürlich die Pharmaindustrie.

Wir, das Publikum, das dieses Spektakel eigentlich mit Spannung erwarten sollte, wir haben entweder schon längst den Überblick oder bereits die Lust verloren. Die sogenannte Dopingbeichte des österreichischen Radfahrers Bernhard Kohl, die eigentlich keine war, weil er nichts Neues sagte, war nicht einmal mehr der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Tour, so wie der gesamte Radsportzirkus überhaupt, hat seit Dekaden jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

„Der Gesundheitszustand des Radsports ist der eines Rekonvaleszenten, der sich langsam von einer schweren Krankheit erholt“, befand unlängst der Direktor des Giro d’Italia, Angelo Zomegnan. Radsport ist ein Produkt, die Fahrer sind nicht mehr als die Hamster im Käfig, das will uns der Giro-Manager sagen.

Doch Fakt ist: Übern Berg ist nichts und niemand. Weder die Dopingdiskussion noch die Fahrer der diesjährigen Tour. Die sollen allen Ernstes auf der 9. Etappe über den Col de Tourmalet klettern, und das auf Entzug? Alle Fahrer vollkommen drogenfrei? Das hat es ja noch nie gegeben.

Schön für den Rennsport, dass die Öffentlichkeit so vergesslich ist. Lang ist’s her, zugegeben. Im Jahre 1987 wurde ein gewisser Didi Thurau von der Tour de „Trance“ ausgeschlossen. Dem Wiederholungstäter wurde die Einnahme von Anabolika nachgewiesen. „Altmeister“ Rudi Altig wurde in den 60ern die „radelnde Apotheke“ genannt. Erik Zabel, Rolf Aldag. Jörg Jaksche oder Stefan Schumacher, allesamt weitere geständige deutsche Schummelfahrer, gingen später mit High-Tech-Präparaten von Dr. Fuentes aus Spanien oder den mittlerweile lebenslang gesperrten Freiburger Ärzten an den Start.

1903, bei der Tour-Premiere, wurde das Pharma-Unternehmen Bayer mit seinem Hustensaft „Heroin“ erster Sponsor der Tour de France. Unerklärlich viele Fahrer klagten damals über Bronchialbeschwerden. Der Inhaltsstoff, das Opiat „Diacetylmorphin“, wurde übrigens erst 1971 in Deutschland verboten. 1909 trug sich der deutsche Bierkutscher Fritz „Die Boulette“ Tietz in die Siegerliste der Tour ein. Er hatte das Aufputschmittel Rotwein entdeckt und es sich auf jeder Etappe gleich literweise verabreicht. Und 1978 wurde dem Belgier Michel Pollentier nach der Urinprobe gar eine Schwangerschaft nachgewiesen – die seiner Freundin.

Das waren damals eher lustige Randnotizen. Dabei war der Engländer Tom Simpson bereits zwei Jahre zuvor, 1976, am Mont Ventoux tot vom Fahrrad gefallen. Die späteren Dopingfälle Marco Pantani, Bjarne Rijs, Ivan Basso, Alexander Winokurow, Manuel Beltran, Tom Boonen, Jimmy Casper, Mikael Rasmussen u. v. a. kann man dem organisierten Verbrechen zuschreiben. Nicht zu vergessen: Tyler Hamilton. (Genau der, der 2007 nach einem besonders schlechten Tag mittels eines Hodenpflasters genügend Testosteron aufsaugte, um die folgende Berg-Etappe wie Phönix aus der Asche zu gewinnen.)

1903, bei der Tour-Premiere, wurde das Pharma-Unternehmen Bayer mit seinem Hustensaft „Heroin“ erster Sponsor der Tour de France

Die Tour de France 2009 ist keine gefährdete Veranstaltung, kein Mega-Event im Zwielicht und schon gar kein Spektakel, dessen Weiterbestehen auf der Kippe steht. Es wird fröhlich weiterverdient und vor allem: weiterberichtet. Natürlich werden redliche Journalisten auch in diesem Jahr auf die Gefahren des Dopings hinweisen, auf unfaires Verhalten, auf Wettbewerbsverzerrungen. Aber stellen wir uns doch einmal vor, es wäre andersherum. Was wäre, wenn die Medien pro Doping argumentierten? Weil alles irgendwie weitergehen muss. Das Publikum würde wohl auch das hinnehmen. Wie „Elfmeter-Schwalben“ beim Fußball oder unerlaubte Anzüge beim Skispringen.

Die 21 Etappen im Uhrzeigersinn der rund 3.500 Kilometer Tour 09 sind geplant, durchgerechnet und verkauft. Mit oder ohne Doping. Es geht abermals durch die Pyrenäen und die Alpen, wie immer. Ferner stehen zwei Einzel- und ein Mannschaftszeitfahren auf dem Programm. Business as usual. Und die diesjährigen Favoriten? Wen interessiert das eigentlich? Hören wir lieber auf Bernhard Kohl: „Ich nahm um 20 Uhr 500 Einheiten Epo, morgens um 8 Uhr war nichts mehr nachweisbar.“

Vielleicht aber hat die globale Finanzkrise Auswirkungen auf die Tour de France. Pharmazeutische Spitzenprodukte haben ihren Preis. Könnte gut sein, dass man jetzt die Dopingbudgets der Mannschaften zusammenstreichen muss. Für die Fahrer wäre das eine unglaubliche Quälerei. Eine wirkliche Katharsis.