Hühner hüten für die Freiheit

Zu Besuch bei der Lutter-Gruppe in Hannover: Die Kommune lebt seit 1983 auf einer Wasserburg. Möbel, Lebensmittel, Kleidung – alles wird hier selbst gemacht

VON SARAH BÓRQUEZ
UND MARIA SELCHOW

Der Kapitalismus ist so schwach wie nie zuvor, aber keiner denkt die Alternative. Wir machen uns auf die Suche nach Menschen, die sich dem System nicht beugen wollen und stattdessen ihre eigenen Vorstellungen von einem sozial gerechten Leben in die Tat umsetzen. Die Suche führt nach Lutter am Barenberge, in eine 2.374-Seelen-Gemeinde im niedersächsischen Landkreis Goslar. Das Ziel: die Kommune Lutter-Gruppe.

Mit dem Wort „Kommune“ verbinden die meisten die Kommune 1, die 68er, Rainer Langhans, Uschi Obermaier. Doch selbst 40 Jahre nach der legendären Zeit gibt es sie noch: Lebensgemeinschaften von nicht miteinander verwandten Menschen jeglichen Alters, die auf den Grundsätzen einer gemeinsamen Ökonomie und ökologischer Verträglichkeit, auf dem Konsensprinzip und der Ablehnung von Hierarchie basieren. Orte des Rückzugs, fernab der gesellschaftlichen Kleinfamiliennorm und Experimentierumfelder für alternative Weltanschauungen.

Prompt verpassen wir sie, die Auffahrt zur Burg Lutter, in der die gleichnamige Kommune ansässig ist. Wir entdecken ein verstecktes Hinweisschild und biegen in die schmale Straße ein. Steil geht es über Kopfsteinpflaster einen Berg hinauf. Dann lichten sich die Bäume, und wir befinden uns plötzlich auf dem wiesenbedeckten Burghof, in dem sich ein paar frei laufende Hühner und spielende Kinder tummeln.

Kommunarde Martin, in Cargohose und schwarzem Kapuzenpulli, erwartet uns bereits. Er wohnt seit 20 Jahren in der Gemeinschaft und ist somit „Burgältester“. Schon in seiner Jugend war er von der Idee fasziniert, in einer Kommune zu leben. In seinem Heimatort gab es ein von Jugendlichen selbst verwaltetes Freizeitzentrum, das ihm einen ersten Vorgeschmack auf ein Leben ohne hierarchische Strukturen bot.

Nach einer kurzen Stärkung im ehemaligen Amtshaus, an das auch der alte Bergfried angrenzt, führt uns Martin über das weitläufige 37.000 Quadratmeter große Burggelände. Von der aus dem 13. Jahrhundert stammenden ehemaligen Wasserburg sind nur der Hauptturm und der Saalbau erhalten geblieben. Die anderen Wirtschaftsgebäude sind im Laufe der Jahrhunderte dazugekommen. In den Sechzigern gehörte die Burg einer Baufirma, die jedoch in Insolvenz ging. Seit 1983 ist die Burg im Besitz der Kommune.

Kommunarden per Zeitungsannonce gesucht

Mit Stolz führt uns Martin durch die frisch renovierten Veranstaltungsräume im Palas. Hier sollen in Zukunft unter anderem Konzerte mit politisch engagierten Bands stattfinden. Im Laufe der Zeit haben die Kommunarden die Gebäude der Burg in mühsamer Eigenarbeit saniert. Ein Ende ist dabei nicht in Sicht, an dem alten Gemäuer ist ständig etwas zu tun. Auch wenn es immer nur Stück für Stück vorangeht: Das Denkmalschutzamt und das Land Niedersachsen sind dankbar, dass sich überhaupt jemand so engagiert um die Burg kümmert.

Der Weg durch den weitläufigen Garten führt an einem akkurat angelegten Gemüsegarten vorbei, an Gewächshäusern und durch dichtes Grün. Hier gibt es genug Raum für alle. Momentan sowieso: Neun Erwachsene zwischen 24 und 43 Jahren und ein Kind leben derzeit in der Kommune. Zu Spitzenzeiten waren es über 20 Mitglieder. Die Gründe, warum Leute ausziehen, sind vielfältig: soziale Beziehungen, die nicht mehr funktionieren, gescheiterte Projekte oder auch Pläne von Bewohnern, die sich auf der Burg nicht umsetzen lassen.

Die Gründungsmitglieder der Lutter-Gruppe waren Studenten der Universität Braunschweig, die für ihr Vorhaben damals über Anzeigen in der taz Sympathisanten suchten. Von den 17 Pionieren Anfang der 1980er blieben nach zwei harten Wintern in der baufälligen Burg nur fünf übrig. „Es gab viele Streitereien am Anfang, weil es kein richtiges Konzept gab und ziemlich offen war, was hier so passiert“, erzählt Martin, während er sich eine Zigarette dreht, „da trafen die unterschiedlichsten Vorstellungen aufeinander.“

Mit der Gründung einer GbR wurde eine solide Grundlage geschaffen, die noch immer existiert. Der GbR-Vertrag regelt, dass alle Bewohner Eigentümer von allem sind, und hält fest, was jeder mit in die Gruppe einbringt und bei einem Ausstieg auch wieder zurückerhält. „Angenommen, jemand steigt mit 20.000 Euro ein und geht nach drei, vier Jahren wieder, dann gibt es das Geld auch wieder zurück. Das ist ein Zugeständnis an die Leute, die das Ganze mal ausprobieren wollen. Damit die nicht alles verlieren“, berichtet Martin.

Neugierig betrachten wir Fotos aus über 25 Jahren Kommunengeschichte, während er ergänzt, dass manchmal sogar Schuldner aufgenommen wurden. Wenn der entsprechende Kommunarde lange genug in der Kommune bleibt, werden die finanziellen Verpflichtungen von der Gemeinschaft übernommen.

In den alten Wirtschaftsgebäuden rund um den Burghof liegen die Werkstätten der Kommune, auf denen die gemeinsame Ökonomie basiert. Es gibt eine Tischlerei, eine Bio-Vollkorn-Backstube, eine Fahrradwerkstatt, eine Mosterei, ein Tagungshaus und eine Textildruckerei. Einige der Bewohner haben eine Ausbildung oder Lehre als Masseur, Klempner, Tischler oder auch Werkzeugmacher absolviert, sind jetzt aber auch in anderen Bereichen tätig.

Martin ist eigentlich Kaufmann, widmet sich auf der Burg aber Textilien. Er bedruckt fair gehandelte T-Shirts mit politischen Motiven und kundeneigenen Motiven. Während die Gemeinde von Lutter den Kommunarden in der Anfangszeit eher misstrauisch gegenüberstand, sind die dort veranstalteten Burgfeste mittlerweile sehr beliebt. Gern bringen die Dorfbewohner eigenes Obst zur Mosterei, um anschließend den frisch abgefüllten Saft mit nach Hause zu nehmen. Besonders gut läuft das Tagungshaus. Hier treffen sich oft politische Gruppen, aber auch Schulklassen, Pfadfinder und Kinderladengruppen quartieren sich gern ein.

Alle Kommunarden arbeiten ausschließlich selbstständig auf dem Burggelände. Dabei gibt es auch Tätigkeiten, die nicht unmittelbar mit Geld zu tun haben, etwa Gartenarbeit oder die Pflege der Tiere. „Man könnte meinen, dass ein Tischler für uns wesentlich mehr wert wäre als jemand, der die Kinder betreut oder im Garten arbeitet, da der Tischler Geld für die Kommune einbringt und derjenige, der die Kinder betreut oder den Garten beackert, nicht. Solche Unterscheidungen machen wir hier aber nicht“, versichert Martin.

So gut wie nie gibt es Bewohner, die einfach nichts tun und sich hängen lassen. Das kann zwar phasenweise vorkommen, „aber im Prinzip ist das dann schon ein Zeichen, dass sie bald weggehen“, weiß Martin aus Erfahrung. Ernsthaft am Kommuneleben auf der Burg Interessierte gibt es etwa zehn pro Jahr. Kommunardenanwärter kommen meist aus dem Bekanntenkreis der Bewohner oder werden z. B. durch das jährliche Treffen von Kommuneinteressierten, „Los geht’s“ auf die Kommune aufmerksam. Mitglied in der GbR wird, wer ein Jahr Probezeit in der Kommune absolviert hat. Da zeigt sich, ob man an einem Strang ziehen kann und will.

Wirtschaftlichkeit und Eigentum

Wie funktioniert das mit dem gemeinsamen Strang – vor allem finanziell? Die Kommune besitzt einen gemeinsamen Safe, auf den jeder jederzeit nach dem Bedürfnisprinzip Zugriff hat. Größere Anschaffungen werden im Plenum besprochen; zum Beispiel wird aus der Gemeinschaftskasse der anstehende Schweden-Urlaub eines Pärchens bezahlt. Alle Bewohner verfügen zusätzlich über Privatbesitz bzw. persönliche Sachen „Also, es geht hier niemand in das Zimmer von einem anderen und klaut sich da die Socken“, lacht Martin. Zweifel von Nichtkommunarden an der Idee der gemeinsamen Ökonomie kann er nicht nachvollziehen. Das gegenseitige Vertrauen ist essenziell.

Die Kommune arbeitet, falls nötig, mit der GLS-Bank zusammen, der Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken. Diese hat 2003 die Ökobank übernommen und unterstützt primär kulturelle, soziale und ökologische Projekte. Auch das Netzwerk Kommuja für politische Kommunen, in dem die Lutter-Gruppe mit 27 anderen Land- und Stadtkommunen registriert ist, unterstützt das Kommunenmodell auf vielfältige Weise.

Martin schätzt, dass zurzeit etwa 300 Kommunarden zum Netzwerk der politischen Kommunen gehören. Neben dem Anwerben neuer Kommunarden, beim Kommuneninfotreffen „Los geht’s“ tauschen die Gemeinschaften auch mal Material über das Netzwerk aus, sodass bei Sanierungen Kosten gespart werden. In den Lagerräumen der Burg befindet sich ein gut sortiertes Sortiment an Türen, Scharnieren, Kloschüsseln und Werkzeugen – auch antike Wasserhähne findet man hier.

Finanziell bewährt sich das Konzept der Burg Lutter bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten. Das Modell der Lohnarbeit schließen die Bewohner für sich konsequent aus. Auch staatliche Unterstützung in Form von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bzw. Hartz IV lehnen sie ab. Deshalb stellt auch das Bedingungslose Grundeinkommen für die Kommunarden keine Alternative zum bestehenden System dar. Es sei vor allem eine schöne Utopie.

Besonders kritisch sieht Martin die Finanzierung durch Steuern: „Das Bedingungslose Grundeinkommen ist meistens an den Konsum gekoppelt. Die Leute müssen kaufen. Das heißt, es ist ein Konzept, das eigentlich beinhaltet, dass es gerade so weitergeht wie jetzt und dass ständig schnell zu Müll werdender Kram produziert wird, der dann verkauft und gekauft werden muss. Da wird so lange versucht, Geld rauszuschinden, wie es irgendwie geht, ohne Rücksicht auf die Lebensbedingungen aller auf diesem Planeten.“

Wichtiger findet er, dass sich die Menschen in kleinen Einheiten sozial selbst organisieren und probieren, autonom zu leben. Statt nur zu versuchen, das System zu ändern, sollte man sich in erster Linie selbst ändern. Ein Modell natürlich, das nur für Gruppen realisierbar ist und das eine ganz andere, dezentralisierte Gesellschaft ohne Hierarchien zum Ziel hat.

Doch Martin glaubt ohnehin nicht, dass ein Ruck durch die Massen gehen und die Menschen aus ihrer politischen Lethargie reißen könnte. Er aber hat sich seinen Traum erfüllt: arbeiten und leben ohne Hierarchien, unter einem Dach mit gleich gesinnten Menschen, die oft zu guten Freunden werden. Die Kommune bietet ihm Gemeinschaft und soziale Sicherheit, aber auch Unabhängigkeit, Zeit und Raum für politische Betätigung und Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung. Kurz: „Eine Freiheit, die man sonst nur mit sehr viel Geld kaufen kann.“