Wir sind Kunst – wer ist mehr?

Kunst soll Gesellschaft verändern, forderte Beuys. Inzwischen ist es eher umgekehrt

VON CARA WUCHOLD

Joseph Beuys beschriftete 1969 eine Zeichnung mit den Worten: „Work only when you feel: your work starts revolution“. Konfrontierte man Beuys’ Aussage mit Werken des spanischen Künstlers Santiago Sierra, wären sie an Anmaßung kaum zu übertreffen. Sierra tätowierte 1999 jungen Arbeitslosen in Havanna jeweils einen Strich auf den Rücken, sodass eine Linie von 250 Zentimetern entstand, und gab jedem 50 Dollar dafür.

2002 bezahlte er einen Obdachlosen in einer britischen Galerie dafür, den Satz zu sagen: „Durch meine Beteiligung könnte dieses Werk einen Profit von 72.000 Dollar erzielen. Ich bekomme dafür 5 Pfund.“ Und 2007 ließ er Sofalehnen aus altem menschlichem Kot unter Zusatz eines Bindemittels formen – von Mitgliedern der Kaste der Unberührbaren, die in Indien Latrinen reinigen. Damit holt Sierra die Ausbeutung von Menschen durch unser Wirtschaftssystem in den Kunstkontext, ist aber kein politischer Aktivist.

Liest man den Satz „Work only when you feel: your work starts revolution“ jedoch vor dem Hintergrund von Beuys’ Begriff der Sozialen Plastik, unterstreicht er die Notwendigkeit, Kunst in den Dienst gesellschaftlicher Veränderungen zu stellen. Im Sinne von Beuys’ „erweitertem Kunstbegriff“ ist jeder Mensch, der seine Fähigkeiten entfaltet, ein Künstler und als solcher für die Gestaltung der Gesellschaft mitverantwortlich.

Jeder Mensch, der sich entfaltet, ist ein Künstler

Auch der in Berlin lebende Künstler Andreas Siekmann beschäftigt sich mit Arbeitsverhältnissen in unserer Gesellschaft. Mit „Ne travaillez jamais“ (Arbeitet niemals, 1996–99) betitelte er eine Bilderfolge, die eine Talkshowsituation zeigt. Hier werden Arbeit und die Folgen einer spätkapitalistischen Gesellschaft wie Arbeitsmüdigkeit und Verweigerung von blauen Jeanshosen diskutiert. Leere Hüllen als Zeichen der Entfremdung. Doch letztlich nur eine Dokumentation der Verhältnisse.

Die Aufforderung „Arbeite nie!“ findet sich auch im Werk der New Yorker Künstlerin Josephine Meckseper, die den Slogan neben Luxusobjekten wie Chanel-Flakons platziert. Das Migros-Museum für Gegenwartskunst in Zürich widmete ihr unter dem Titel „Kapitalismuskritik reloaded“ eine große Einzelausstellung. Der Eingangsbereich führte in ein imaginäres Warenhaus. Eine ästhetische statt ökonomische Wunschmaschine, in der die Tauschverhältnisse anderen Gesetzen unterworfen sind. Selbst wenn sie hier eine ironische Brechung des Wirtschaftskreislaufs aufzeigt, geht sie nicht so weit, der Kunst Lösungen für die Realität zuzutrauen.

Die Beuys’sche Gleichung „Kunst gleich Kapital“ behält ihre Brisanz nach wie vor. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise, die auch eine Abwärtsspirale auf dem Kunstmarkt mit sich bringt. Dem Geldkapital hält Beuys die Kreativität der Menschen als das wahre Kapital entgegen. Ein Schlüsselgedanke seines gesellschaftlichen Zukunftsmodells war die Abschaffung der Verbindung von Lohn und Arbeit. Auf Einkommen bestehe ein „Menschenrecht“, sagte er 1984, und jeder Mensch sei „ein sich selbst bestimmendes Wesen“. Die Abhängigkeit vom Staat, die ein Grundeinkommen mit sich brächte, dämmte er durch die Forderung nach einer direkten Demokratie und die Abschaffung des Parteiensystems ein.

Kunst wirkt in Räumen abseits der Politik

Der Kunstverein Harburger Bahnhof knüpfte 2007 mit „Reihe: Ordnung sagt Arbeit“ als Auftakt eines fortdauernden Ausstellungskonzepts an Beuys’ Gleichung an. Die Künstler stellen fest, dass eine Tätigkeit einen Wert nur hat, wenn sie die Produktionsbedingungen erfüllt und Wachstum ermöglicht. Zugleich schließt der Arbeitsbegriff heute alle Lebensbereiche ein: Freundschaft ist Arbeit, Liebe ist Arbeit, Sexualität ist Arbeit, Freizeit ist Arbeit, Arbeit ist Arbeit. Bleibt die Lohnarbeit nur noch wenigen vorbehalten, braucht es Veränderungswillen und Ideen. So betrachtete die Ausstellung auch das bedingungslose Grundeinkommen als Kunstwerk. In Diskussionsrunden fragte man nach neuen Wirtschaftsformen und Menschenbildern.

Es gibt also eine künstlerisch artikulierte Gesellschaftskritik, die Widersprüche ausmacht und Forderungen ausspricht. Allerdings wirkt Kunst heute in eigens aufgemachten Räumen der Öffentlichkeit, jenseits der etablierten Politik und innerhalb des Marktes. Fotografien von Aktionen Santiago Sierras sind im Berliner Privatmuseum des Kunstsammlers Christian Boros zu sehen, der in einem von Albert Speer konzipierten Bunker Objekte und Installationen von zeitgenössischen Schwergewichten der bildenden Kunst zeigt. Der Mediendesigner Boros sagt, er sammle Kunst, die er nicht versteht. In Bezug auf Sierra erleben wir hier, wie künstlerische Systemkritik in aller Beiläufigkeit von Kapital und Gesellschaft aufgesogen oder ignoriert wird. So kann sich nur schwer eine wirksame ästhetische Strategie des Widerstands entwickeln. Es sei denn, Künstler entzögen ihre Werke dem Markt, engagierten sich tatsächlich in der Politik, wie Beuys das für die Grünen versuchte, und blieben zeitlebens in der Opposition.