Alle unter einem Dach

Vor fünfzehn Jahren von einer Familie in Dülmen erfunden, dann Projekt von Bauunternehmen, jetzt Herzenssache der Familienministerin: Die Geschichte des Mehrgenerationenwohnens ist die eines gesellschaftspolitischen Erfolges

Vier Generationen, die in enger Gemeinschaft unter einem Dach leben, obwohl sie nur teilweise oder gar nicht miteinander verwandt sind. In Berlin Marzahn ist dies möglich. Hier investierte die Degewo im letzten Jahr rund 700.000 Euro in den Umbau eines sechsgeschossigen Plattenbaus. Wohngrundrisse wurden verändert, ein Aufzug ein- und Balkone angebaut. So entstand ein Mehrgenerationenwohnhaus, das Singles, Familien und Senioren nun zu einem Zusammenleben der besonderen Art zur Verfügung steht.

Das so genannte Mehrgenerationenwohnen ist heute in fast jedem deutschen Bundesland zu finden und hat sich zu einem Modell von hohem gesellschaftlichem Nutzen entwickelt. Vor 15 Jahren wurde die Idee noch für Spinnerei gehalten. Damals erwarb Familie Weber aus Dülmen im Münstlerland einen alten Bauernhof mit 50.000 qm Land, um ihn zu einem Vier-Generationen-Haus auszubauen. Die Idee war, Menschen jeden Alters einen selbstbestimmten, von Menschlichkeit, Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und gegenseitigem unentgeltlichem Engagement und Verantwortung geprägten Lebensraum zur Verfügung zu stellen.

Die Stadtverwaltung war zu Anfang nicht begeistert

Im Fall der 10-köpfigen Familie Weber fanden acht weitere Bewohner auf dem Hof Platz. Die Pflege und Betreuung hilfsbedürftiger Menschen stellte eine ausgebildete Altenpflegerin sicher. Während sich die Bevölkerung schon damals von dieser Idee begeistert zeigte, sah die Stadt Dülmen in dem Vorhaben jedoch nur den Versuch, ein Altenheim ohne entsprechende technische und personelle Standards aufzuziehen. Webers schrieben an die großen Parteien des Landes und starteten Aktionen, die auf das Projekt aufmerksam machen sollten.

Auch Unternehmen in ganz Deutschland erfuhren von diesem ungewöhnlichen Modell. Um das Jahr 2000 begannen zahlreiche Baufirmen, das Mehrgenerationenwohnen für sich zu entdecken. Die Interessenten trafen sich schon in der Planungsphase, um ihre Vorstellungen gemeinsam mit dem Architekten zu besprechen. Im Jahr 2005 schlossen sich in Bonn-Beuel mehrere Menschen zu einer eingetragenen Genossenschaft zusammen. So entstand in dem kleinen Beueler Stadtteil Vilich-Müldorf eine auf drei Häuser verteilte Wohnanlage, in der gegenwärtig 46 Erwachsene zwischen 26 und 85 Jahren, sowie 20 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre leben.

Dass diese alternative Wohnform gerade in Zeiten, in denen Kindergarten- und Kita-Plätze knapp sind und ältere Menschen keine ausreichende Pflege erhalten, ein zukunftsweisendes Modell darstellt, ist hier in Eigeninitiative erkannt worden.

Vor drei Jahren sattelte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf die Idee auf und rief das „Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser“ ins Leben: Tagestreffpunkte, in denen familienorientierte Aktivitäten und Dienste für Jung und Alt hauptsächlich ehrenamtlich angeboten werden. Die Bundesregierung stellt für dieses Modellprojekt insgesamt 88 Millionen Euro bereit. Aus der Utopie der Familie Weber aus Dülmen ist ein Regierungsprogramm geworden.

Nach Ursula von der Leyen kann und soll die Gemeinschaft der Generationen, wie sie in einem Mehrgenerationenhaus stattfindet, ein Vorbild für ganz Deutschland sein.

BONNIE BERENDES