Neue Konzepte statt Tabus

ANTISEMITISMUS Bei immer mehr Schülern läuft „Erziehung nach Auschwitz“ ins Leere. Neue pädagogische Ansätze erzielen erste Erfolge unter den veränderten Bedingungen

Manche verbreiten ihren Antisemitismus geradewegs beim Besuch in einem Konzentrationslager

VON JEANNETTE GODDAR

Was der Zehntklässler, der sich Garry nennt, im Internet schreibt, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Seit der Nationalsozialismus im Unterricht dran sei, käme ihm immer Schlimmeres zu Ohren: von „Irgendwas müssen die Juden ja gemacht haben, dass sie immer verfolgt wurden“ bis zu dem Ausdruck „bis zur Vergasung“ und „du Jude“ als Schimpfwort. Nun fragt Garry, was er wohl machen soll – angesichts von Klassenkameraden, die „entweder über so was lachen oder es einfach hinnehmen, als wäre es total normal“. Dass er selbst Jude ist, wissen nur zwei gute Freunde und eine Lehrerin.

Antisemitismus ist unter Jugendlichen keine Randerscheinung und die Behandlung des Holocaust in der Schule längst nicht immer ein erfolgreicher Grundkurs in Empathie. Das beschäftigt Pädagogen ebenso seit Jahren wie die Frage, wie sie es besser machen können. Die Frustration, mit der Schüler reagieren, bezieht sich längst nicht nur auf den Frontalunterricht im Klassenzimmer. Auch Zeitzeugengespräche oder Gedenkstättenbesuche zeitigen längst nicht immer das gewünschte Resultat. In Ausnahmefällen enden sie gar in einem Eklat – und der eine oder andere verbreitet seinen Antisemitismus geradewegs bei einem Besuch in einem Konzentrationslager.

Gründe dafür gibt es nach Ansicht von Experten viele – von wenig ganzheitlichen Ansätzen über die Überforderung der Schüler bis zu der mangelnden Möglichkeit der Identifikation. Eine „Erziehung nach Auschwitz“ als oberste Prämisse, wie sie einst Theodor Adorno forderte, ist drei Generationen nach Kriegsende nicht leichter geworden: Allen fehlt inzwischen der direkte Bezug zu dem Geschehenen. In deutschen Großstädten stammt zudem nahezu jeder dritte Schüler aus einer Familie, die nicht aus dem Land der Täter stammt. Und: Vor allem unter arabischen Jugendlichen finden sich viele, die sich nicht von der deutschen, sondern von der israelischen Gesellschaft verfolgt fühlen. Dass Antisemitismus nicht nur unter muslimischen Jugendlichen auftaucht, ist unstrittig, aber dass es auch dort auftaucht, war jahrelang tabu.

Konzepte, die Antisemitismus anders als traditionell behandeln und zuweilen auch den Nahostkonflikt thematisierten, werden erst in allerjüngster Zeit entwickelt. Das American Jewish Committee und das Anne Frank Zentrum haben Materialien entwickelt, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden und Jugendliche immer wieder auch die Perspektive wechseln lassen. Das Anne Frank Zentrum macht gute Erfahrungen mit einem Material, das bei der Vorstellung höchst umstritten war: mit einem Comic, der die Spurensuche einer Jüdin nach ihren in Auschwitz ermordeten Eltern nacherzählt und den Jugendlichen ermöglicht, in die Rolle von Opfern und Tätern, Mitläufern und Mitwissern zu schlüpfen. Das Jüdische Museum Berlin hat eine muslimisch geprägte Klasse aus Berlin-Neukölln mit einer des Jüdischen Museums zusammengeführt und bei ihrem Kennenlernen begleitet. Dabei zugeschaut und die Begegnungen zu einem eindrücklichen Film werden lassen hat ein Team der Deutschen Welle: „Koscher, gibt’s das nicht auch im Islam?“ ist im Internet abrufbar.

Vor allem aber bringen kleine, nahezu ehrenamtliche und trotz der Brisanz des Themas um ihr Überleben kämpfenden Initiativen den Diskurs voran. Das Bildungsteam Berlin-Brandenburg hat mit seinen „Bildungsbausteinen gegen Antisemitismus“ eine Sammlung entwickelt, die der Realität der Gesellschaft von heute gerecht werden will. Unter dem Titel „Woher kommt Judenhass? Was kann man dagegen tun?“ setzt das Material nicht in erster Linie auf Schuld und Holocaust – sondern regt Debatten über eine 2.000-jährige Spanne vom christlichen Antijudaismus über alte und neue Verschwörungstheorien bis zum 21. Jahrhundert an. Mithilfe von Rollenspielen, Interviews und interaktivem Material lernen die Jugendlichen das aktuelle jüdische Leben ebenso kennen wie das frühere. Sie sehen Filme über antisemitische Vorfälle von heute und diskutieren aktuelle Vorfälle: Warum ist das so? Wer hätte in welcher Situation so oder anders reagieren können? Nicht zuletzt überprüfen sie ihre eigenen Stereotype beziehungsweise lernen sie überhaupt erst einmal kennen: den „reichen Juden“ zum Beispiel. Die von einem Berliner Türken gegründete „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ veröffentlicht zudem als wohl erste bundesweit demnächst zwei Unterrichtseinheiten zum „Nahostkonflikt“ und zum „islamistischen Antisemitismus“ für Haupt- und Realschulen. Das Projekt Amira hat für den Herbst eine Handreichung für Lehrer angekündigt: wie Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden sinnvoll gestaltet werden können.

www.bildungsteam.de; www.kiga-berlin.org; www.amira-berlin.de; www.annefrank.de; www.ajc.org; www.juedisches-museum-berlin.de; www.dw-world.de/dw/article/0,,4589790,00.html