Die Verbündete

BERLIN Freiheit, Toleranz und Abenteuer: Das ist das Versprechen dieser Stadt. Aber ist sie auch Heimat?

Eine Witwe im Pelz. Ein schwuler Banker. Ein hübscher Punk. Ein wütender Ostler. Ein türkischer Gemüsehändler. Man kam, wie man war, um zu werden, was man ist

VON SABINE WILEY

Engel sind auch nur Menschen. Vor allem, wenn sie sich verlieben, so wie in Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“. Bruno Ganz als Engel Damiel war allerdings nicht der Einzige, der davon träumte, in Berlin ein Mensch zu sein. Auch so mancher westdeutsche Möchtegern-Engel sehnte sich nach Freiheit, Liebe, Toleranz und Abenteuer. Berlin, das war für viele die mystifizierte Hochburg eines permanenten Ausnahmezustands – die letzte Zuflucht Deutschlands.

Manche zog es dorthin, weil ihnen der Himmel über der Bundesrepublik zu überschaubar erschien. Was hatte man schon vom Leben, wenn alles bloß darauf abzielte, erwachsen zu werden, um kreditwürdig zu sein? Würde sich der Sinn des Lebens tatsächlich in der günstig finanzierten Einbauküche offenbaren? Wer Zweifel an der Richtigkeit einer risikofreien Existenz hatte, packte seine Sachen, um in Berlin alternative Antworten auf die Fragen des Lebens zu suchen.

Kreative Querdenker, Künstler, Schwule und Lesben – alles was im Beton einer Bankenstadt wie Frankfurt nicht aufblühen konnte oder im katholischen München den Glauben an Gott und die Welt verloren hatte oder schlichtweg keinen Wehrdienst leisten wollte, flüchtete in die heimliche Hauptstadt der Andersgläubigen. In Berlin spielte es keine Rolle, woher man kam, wie man aussah oder was man dachte. Man kam, wie man war, um zu werden, was man ist.

Ich kam erst 1999 nach Berlin. Die coolen Achtziger waren längst und die chaotischen Neunziger beinahe vorbei. Doch dieses Versprechen der Stadt, dass hier Dinge möglich waren, hing noch immer in der Luft und manifestierte sich mal als Untergrundgalerie, mal als nächtliche Begegnung, die anderswo nie stattgefunden hätte.

Ernsthafte Absichten zu bleiben hatte ich trotzdem nicht. Ich ging davon aus, dass ich eine Zeitlang hier arbeiten würde, um dann wieder nach Frankfurt zu ziehen. Die Mainmetropole war mein Zuhause. Dachte ich jedenfalls. Doch je länger ich fortblieb, desto fremder wurde mir die Stadt. Wenn Heimat bedeutet, emotional mit den Traditionen und Gebräuchen der Geburtsstätte verbunden zu sein, dann war ich heimatlos. Zwar konnte ich Handkäs’ mit Musik (Zwiebeln mit Essig und Öl) essen und dazu Äppelwoi trinken, ohne mich übergeben zu müssen. Aber machte mich das schon zu einem Frankfurter?

Ich bin zwar dort geboren worden, aber meine Eltern nicht. Mein Vater stammt aus Pommern, meine Mutter aus Korea. Die meisten Verwandten leben in Asien, in Frankreich, Amerika und sogar in Afrika. Herkömmliche Traditionen und Gebräuche pflegten wir nicht. Wir hatten eigene. Mit Papa hörte ich russische Soldatenlieder, mit Mama aß ich Kim-Chi – eingelegten Kohl auf koreanische Art. Meine Muttersprache habe ich nie gelernt. Wir sprachen Deutsch – die Sprache meines Vaters.

Dass ich kulturell gesehen eine Mogelpackung in einer missverstandenen Heimat war, ahnte ich. Wirklich verstanden hatte ich es allerdings erst, als mehr und mehr vertraute Menschen Frankfurt verließen und mich die, die blieben, auf Englisch ansprachen, weil sie dachten, ich käme aus Fernost. Oder mich anschrien, dahin zurückzugehen, wo ich hergekommen bin.

Berlin war keine neue Heimat. Aber eine Verbündete. Eine, die ich schätzte, weil sie selbst so rastlos, so entwurzelt war. Berlin verlangte keine kulturelle Eindeutigkeit, weil sie selbst keine bot. Die Stadt war, je nachdem wo man stand und von wo aus man schaute, immer eine andere. Manchmal eine Witwe im Pelz, dann ein hübscher Punk, ein wütender Ostler, ein türkischer Gemüsehändler, ein schwuler Banker, ein stinkender Hund.

Jeden Tag war ich bereit, wieder abzureisen – und blieb. Ging, weil der Zufall es so wollte, bestimmte Wege, zeichnete mein persönliches Bewegungsmuster in die Stadt. Nach einer Weile kannte ich „meinen“ Prenzlauer Berg und die dazugehörigen Menschen. Irgendwann grüßte man sich.

Im China-Restaurant gegenüber futterte ich mich zum geschätzten Stammgast hoch, die verpasste Post holte ich ein paar Häuser weiter bei den Blumenfrauen ab. Beim Ägypter rauchte ich Wasserpfeife mit Kirschgeschmack, bei der Änderungsschneiderei bekam ich Rabatt. Ich habe miterlebt, wie sich mein Lieblings-Sushi-Imbiss in ein Restaurant verwandelte und wie das Betreiberpaar auch privat expandierte. Habe für das Kind eine rote Schirmmütze und eine Rassel gekauft. Habe überhaupt viele Sachen für die Babys anderer Leute gekauft. Und wunderte mich darüber, dass ich manche Menschen plötzlich schon so lange kannte.

Ob ich hier zu Hause bin, weiß ich immer noch nicht. Vor allem seit sich bestimmte Ecken in meinem Kiez so sehr verändert haben, dass ich Mühe habe, sie wiederzuerkennen. Aber als ich letzten Winter aus Marokko kam und mir die Kälte und das Gemecker eines Berliner Taxifahrers entgegenknallte, da dachte ich: Gott sei Dank.

■  Sabine Wiley, Frankfurt am Main–Berlin