Die Straßen voller Geheimnisse

WOHNEN Nord-Neukölln wird gerne auch Kreuzkölln genannt. Hier gibt es Machos mit Wasserpfeifen, türkische Familien mit Kindern, hippe Studenten, ständig alkoholisierte Deutsche, unsichtbare Galeristen – und mich

Auch die Türken meiner Nachbarschaft glauben nicht, dass ich eine von ihnen bin

VON SEDA NIGBOLU

Zwei Straßen habe ich. Eine ist ruhig und grau, die andere bunt und voller Bewegung. Es hängt von meiner Stimmung ab, auf welcher Straße ich meinen Tag starte. Meine Wohnung liegt in einer Passage zwischen der Fulda- und der Weichselstraße. „Alle Straßen in der Gegend wurden nach den Quellen der Donau benannt“, hat mir einmal ein Taxifahrer gesagt. Das stimmt aber nicht. Die Weichsel liegt in Polen, und die Fulda ist eine Hauptquelle der Weser.

Man kann meine Gegend einfach Nord-Neukölln nennen, aber Reuterkiez klingt cooler, denken viele. Die Verwendung des Wortes „Kiez“ schafft eine Art von Zugehörigkeit. Eine Zugehörigkeit, die ich nicht brauche. Es reicht mir zu wissen, dass um mich herum viel los ist, während ich die Ruhe meiner Passage genieße.

Meine beiden Straßen liegen in der Mitte zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße. Die erste ist das Königreich der Araber, die zweite das der Türken. Es ist überraschend zu sehen, wie stark die beiden Welten dort voneinander getrennt sind. Auf meinen Straßen vermischen sie sich eher.

Mit dem Sommer ist der Geist des Machismo auf die Straßen zurückgekehrt. Männer sitzen vor Wasserpfeifen-Läden oder Cafés, die manchmal komischerweise „Kulturvereine“ genannt werden, und starren die vorbeigehenden jungen Frauen an.

Außer den Machos gibt es drei Arten von Menschen, die ich hier jeden Morgen und Abend treffe: traditionelle türkische Familien, die sich meist hektisch mit kleinen Kindern beschäftigen; alte, arme und nach Alkohol riechende Deutsche und junge, hippe Studenten in entweder zu engen oder zu breiten Hosen in merkwürdigen Farben.

Für viele türkische Familien ist Berlin keine Wahlheimat. Sie sind in Neukölln, weil ihre Familien seit Generationen hier wohnen und das Leben günstig ist. Für die jungen Leute ist es anders: Sie betonen das Wort „Kreuzkölln“ mit solcher Leidenschaft, dass man merkt, wie viel Wert sie auf Trends legen. Sie wollen so viel wie möglich vom Kreuzberg-Spirit mitbekommen.

Es gibt noch eine vierte Art. Das bin ich. Alleine. Ich bin eine Türkin ohne Wurzeln hier. Ich wohne erst seit eineinhalb Jahren in Berlin und fürchte immer, als „Abitur-Türkin“ bezeichnet zu werden. So nennt man Türken, die nur für die Karriere nach Deutschland kommen und möglichst wenig Kontakt mit den einheimischen Türken haben wollen. Sie verstecken ihr Mitleid kaum, wenn ich sage, dass ich in Neukölln wohne. Für sie ist es ein Zeichen dafür, der Unterschicht anzugehören.

Aber auch die Türken meiner Nachbarschaft glauben nicht, dass ich eine von ihnen bin. Jedes Mal bin ich gestresst, wenn ich in einem türkischen Laden etwas einkaufen muss. Sie wollen mir immer auf Deutsch antworten und dann finde ich es zu mühsam, auf Türkisch weiterzumachen und die Routine zu unterbrechen. So gehe ich in die deutschen Supermärkte voller Zombies auf der Karl-Marx-Straße.

Oft fragen mich Leute, welche Sprache ich eigentlich spreche. Das überrascht mich jedes Mal. Die Deutschen erkennen nur das Türkisch, das sie in Kreuzberg und Neukölln hören. Nämlich diesen starken Kiez-Akzent. Manchmal wünsche ich mir, diesen Akzent auch sprechen zu können, um ein Stück von dieser heimischen Identität zu haben. Das geht aber nicht. Ich bin die stumme Fremde unter den Deutschen und Türken hier.

In meinen Straßen werden die Geschäfte fast alle von Türken betrieben, bis auf ein paar Kneipen und eine Galerie. In den Eckkneipen versammelt sich die lokale deutsche Gemeinschaft, die außerhalb der Einkaufszeiten auf den Straßen nicht zu sehen ist. Auf eine Kneipe bin ich besonders neugierig, weil nur Senioren reindürfen. Aber ein noch größeres Geheimnis ist für mich die Galerie „DASLABOR“, die direkt neben meiner Passage liegt. In einem sehr kleinen Raum wird dort experimentelle Kunst gezeigt. Wie überall in Neuköllns Kunstszene sieht es auch hier billig aus. Die große Fleischerei nebenan ist mit ihrem üppigen Fleischangebot auf jeden Fall auffälliger, aber nicht so geheimnisvoll wie „DASLABOR“, das an sechs Tagen in der Woche geschlossen bleibt.

Nur einmal in der Woche, und zwar am Wochenende, öffnet die Galerie ihre Türen für Eröffnungspartys. Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, die bestimmt viel Spaß haben, oder ob das was mit Kunst zu tun hat. Aber jedes Mal, wenn ich dort eine Party sehe, gehe ich langsamer vorbei und hoffe darauf, dass mich endlich jemand einlädt.

Andererseits ist es mit Geheimnissen aber schöner. So wird hier in Neukölln für mich alles neu bleiben, egal wie viel Zeit vergeht.

■  Seda Nigbolu, Istanbul–Berlin