EU-Reformvertrag: "Wie funktioniert das?"

Der EU-Gipfel ist zu Ende, aber die Schwierigkeiten fangen erst an. In vielen Punkten gibt es Unklarheiten im Vertrag - und selbst die Kanzlerin versteht nicht alle Details.

Wer versteht schon den Reformvertrag? Merkel jedenfalls noch nicht so ganz. Bild: dpa

Der Gipfel war noch nicht zu Ende, da ging der Streit schon los, was das Ergebnis praktisch bedeutet. Italiens Ministerpräsident Romano Prodi hatte klargemacht, er könne nicht nach Hause fahren, ohne einen Parlamentssitz mehr für sein Land herausgeschlagen zu haben. Alle Parteien in Italien seien sich einig: Das Land sei gleich groß wie Großbritannien und dürfe nicht weniger Sitze haben als das Königreich. Da das EU-Parlament zuvor beschlossen hatte, das Hohe Haus solle nach der Reform nur noch 750 Abgeordnete zählen, war die portugiesische Ratspräsidentschaft in großer Verlegenheit. Wo den zusätzlichen Sitz hernehmen, um Italien von 72 auf 73 Sitze aufzustocken?

Italien hatte sich gegen die Reduzierung seiner Sitze im Europaparlament gewehrt. Nun bekommt es einen Sitz mehr. Im Gegenzug wird der Parlamentspräsident formal nicht mehr als normaler Abgeordneter zählen, so dass die im EU-Reformvertrag festgelegte Obergrenze von 750 Abgeordneten erhalten bleibt. Polen hatte auf die Ioannina-Klausel gepocht und verlangt, dass eine Minderheit bei knappen Mehrheitsbeschlüssen im Ministerrat neue Verhandlungen erzwingen kann. Der nun gefundene Kompromiss sieht vor, dass die Klausel nicht in den Reformvertrag aufgenommen wird, sondern lediglich in eine Erklärung. Außerdem erhält Polen den Posten eines Generalanwaltes am Europäischen Gerichtshof. Bulgarien hat sich im Streit über die Schreibweise des Euro durchgesetzt. Das Land verwendet als einziger EU-Staat die kyrillische Schrift und darf nun den Euro als "EBPO" schreiben, was in lateinischer Schrift "EVRO" entspricht.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstagnachmittag in Lissabon eintraf, hatte sie sich von ihrem Parteifreund Elmar Brok schon per SMS erklären lassen, wie das Problem aus der Welt zu schaffen sei. Brok hatte als Vertreter der konservativen Parlamentsfraktion den Reformprozess in der Regierungskonferenz begleitet. Mit den beiden anderen Parlamentsvertretern war er sich einig: Zur Not kann Italien einen Sitz mehr bekommen, da in der Praxis der Sitzungsleiter nie von seinem Stimmrecht Gebrauch macht.

Am Morgen nach der Einigung war Brok in Karnevalslaune und jonglierte mit Details aus dem Kompromiss, die so absurd sind, dass selbst Eingeweihte den Sinn nicht mehr verstehen. Aus dem Parlament selber sei die Idee gekommen, Italiens zusätzlichen Sitz damit zu begründen, dass der Sitzungsleiter sich an Abstimmungen nicht beteiligt. Brok zeigte eine SMS der Kanzlerin herum, in der sie fragt: "Wie können wir das begründen? Kannst du mir erklären, wie das funktioniert, Elmar?"

Es funktioniert gar nicht, wie schon wenig später Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering klarmachte. Zwar enthalte sich der Sitzungsleiter bei Abstimmungen meist der Stimme, weil er damit beschäftigt sei, den reibungslosen Ablauf zu garantieren und die Änderungsanträge zu sortieren. Er tue das aber freiwillig und werde sich das Recht nicht nehmen lassen, nach Gusto an Abstimmungen teilzunehmen. Eine solche Vorgabe sei in keinem der von den Staats- und Regierungschefs in der Nacht auf Freitag beschlossenen Texte enthalten. "Insofern ist die Behauptung falsch, dass die Abstimmungsrechte des Präsidenten eingeschränkt werden."

Falsch ist aber auch die Behauptung, das EU-Parlament habe seine Forderungen in Lissabon durchsetzen können. Es hatte die Zusage verlangt, dass der Datenschutz bei Verträgen mit Drittstaaten wie dem Passagierdatenabkommen zwischen EU und USA vom Parlament überwacht wird. Dieser Passus ist nicht in den Text aufgenommen worden. "Wenn es darüber Streit gibt, rufen wir eben den Europäischen Gerichtshof an", erklärte Brok unbekümmert. "Der entscheidet in dieser Frage zu unseren Gunsten, das wissen wir aus früheren Urteilen."

Auch die Vorbehalte des Parlaments gegen den ins Auge gefassten Zeitplan sind nicht aus der Welt. Am 1. Januar 2009 sollen die neuen Verträge spätestens in Kraft treten. Bis dahin will Frankreichs Präsident Sarkozy, der Ende 2008 die Ratspräsidentschaft innehat, den neuen Posten des EU-Außenministers besetzt haben. Auch der neu eingeführte Ratspräsident, der jeweils für zweieinhalb Jahre die Gipfeltreffen organisieren soll, soll Anfang 2009 am Start sein.

Die Reform muss so frühzeitig umgesetzt werden, damit die Bürger sich auf die neue Rechtsgrundlage einstellen können, bevor sie im Sommer 2009 ein neues Europaparlament wählen. Andererseits werden dadurch die Spielräume der frisch gewählten Abgeordneten beschnitten. Denn sie können den neuen Verträgen zufolge beim Personalpaket mitreden und müssen die neue Kommission mit Mehrheit bestätigen. Wie aber können sie den neuen Einfluss nutzen, wenn sechs Monate zuvor schon Fakten geschaffen wurden, weil sich der Rat bereits ohne Beteiligung des Parlaments auf die Besetzung von zwei europäischen Spitzenposten geeinigt hat? Sarkozy hat in Lissabon auch deutlich gemacht, dass für ihn eine zweite Amtszeit von Kommissionspräsident Barroso schon jetzt ausgemachte Sache ist.

Die drei Parlamentsvertreter, die an der Vertragsreform beteiligt waren, sind dennoch zufrieden. Elmar Brok erinnerte gestern daran, dass künftig bei der Agrarpolitik und bei der Justiz- und Innenpolitik der Rat mit Mehrheit abstimmt und das Parlament ebenfalls zustimmen muss. Großbritannien hat nach der 1. Lesung im Europaparlament drei Monate Zeit, um sich zu entscheiden, ob es an einem Gesetzesvorhaben teilnehmen will oder nicht.

Dänemark steht diese Option nicht offen. Der dänische Beitrittsvertrag schließt eine Beteiligung an der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik aus. Wie der dänische Europaabgeordnete Jens-Peter Bonde der taz erklärte, muss in Dänemark ein Referendum über diesen Teil des neuen Vertrags stattfinden, falls Dänemark sich künftig an Gesetzen beteiligen will, in denen es um Migration, Kriminalitätsbekämpfung oder Terrorismus geht. "Die dänischen Wähler werden nicht akzeptieren, dass man ihnen ein Häppchen des Vertrags zur Abstimmung vorlegt und den Rest nicht", glaubt Bonde. Zwar habe der dänische Premier seinen Amtskollegen Sarkozy und Balkenende versprochen, auf ein Referendum zu verzichten. Sobald aber in Frankreich und den Niederlanden der Vertrag vom Parlament abgesegnet worden sei, werde er diese Entscheidung revidieren, glaubt Bonde.

Wenn es wirklich so weit kommt, geht die Diskussion um die Unzulänglichkeiten, Widersprüche und ungeklärten Details des Vertrags von vorne los. Dann rächt es sich, dass in der Nacht von Lissabon Konzessionen gemacht worden sind, die die juristischen Texte noch schwammiger und ihre politischen Folgen unkalkulierbar machen. Mit einem solchen Vertrag kann man die Menschen nicht davon überzeugen, dass sie für Europa zur Wahlurne gehen sollen.

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