Die ganze Welt im Wald

Die Situation: Eine Fremdsprache zu erlernen gehört heute in den USA zum guten Ton. An öffentlichen Schulen büffelt jedes zweite Kind Französisch, Chinesisch, am häufigsten – nämlich zu zwei Dritteln – Spanisch. Nur 2 Prozent aller SchülerInnen wollen Deutsch lernen, Tendenz sinkend.

Das Angebot: Die Concordia Language Villages gibt es seit 1961. Sie sind ein international anerkannter Standort für Sprachausbildung, gelegen auf einem 335 Hektar großen Grundstück am Turtle River Lake in Minnesota. Insgesamt werden 13 Sprachen angeboten. Das deutsche Camp heißt Waldsee. www.concordialanguagevillages.org/

Der Preis: Ein Zwei-Wochen-Kurs kostet in den USA 1.495 Dollar (960 Euro), ein Vier-Wochen-Kurs 3.325 Dollar (2.136 Euro). Concordia bietet auch Camps in anderen Ländern an. AWO

AUS MINNESOTA ADRIENNE WOLTERSDORF

In ganz Amerika lernt niemand Fremdsprachen! In ganz Amerika? Irgendwo zwischen Seen und Laubbäumen liegt ein verstecktes Dorf, tief im Wald und bewohnt von tausenden Teenagern, die von morgens bis abends Fremdsprachen lernen. Es gibt dort sogar Haribo-Gummibärchen, Ampelmännchen und – als besondere Attraktion – ein deutsches Kippfenster.

Unweit der kanadischen Grenze, an einer einsamen Weggabelung, liegen die „Concordia Language Villages“. Ein Holzschild weist die Richtung zu einem See mit vielen Namen: „Waldsee“ steht da, „Lac du Bois“, „Lago del Bosque“, „Scoge Jorden“ – je nachdem, in welchen Sprachraum man unterwegs ist. 14 verschiedene Sprachdörfer säumen den See. In ihnen tauchen jedes Jahr tausende Kinder und Jugendliche in eine fremde Welt ein, um deren Sprache so zu lernen, als wären sie wirklich in Japan, China, Frankreich oder Deutschland.

Im norwegischen Dorf thront eine einst in Norwegen gekaufte Stabkirche. Dem finnischen Dorf wurde ein original rosafarbener Holzbahnhof spendiert. Im spanischen Pueblo drängen sich die Fincas um die kolonnadengesäumte Plaza Major, im französischen Village gibt es, bien sur, ein „Café de Paris“ und frische Croissants. Ein Shinto-Tor führt ins japanische Dorf. Alles stimmt, bis hin zum landesüblichen Briefkasten.

Wer durch den kühlen Duft alter Birken nach „Waldsee“ gelangt, wähnt sich im Schwarzwald, wo auch das echte Waldsee liegt. Die real existierende Gemeinde hat ein original deutsches Ortsschild spendiert. Auf dem Parkplatz steht Andreas und begrüßt die Gäste auf Deutsch: „Guten Tag, herzlich willkommen. Haben Sie Ihre Papiere dabei?“ Weiter geht es zum „Marktplatz“, wo aufgereiht 170 Taschen und Koffer stehen, dazwischen Kissen und Schmusebären. Aufgeregte Jungs und Mädchen zupfen an ihrer Kleidung, lachen und umarmen sich. Es ist Schichtwechsel in Waldsee. Die Zwei- und Vierwöchler reisen ab. Neue kommen, um ebenfalls in kürzester Zeit beeindruckend gut Deutsch zu lernen. Nach dem selbstständig einstudierten Kabarettprogramm – auf Deutsch selbstverständlich – werden sie mit ihren Eltern wieder nach Hause fahren, manche tausende Kilometer, bis hinunter nach Kalifornien oder Texas. Sie haben Wochen hinter sich, in denen sie vom morgendlichen Zähneputzen bis zum mitternächtlichen Lagerfeuer nur Deutsch gesprochen, gesungen und gespielt haben.

Der 14-jährige Boris hat bei der Abschlussfeier einen Preis bekommen – in seinem Jahrgang hat er am meisten Deutsch gesprochen, haben die geheimen Sprachmeister ermittelt. Sie haben unerkannt mitgezählt, welcher Waldseer am häufigsten von sich aus Deutsch gesprochen hat. Die Sprachmeister und andere Betreuer sind junge Deutsche, Schweizer, Österreicher oder US-AmerikanerInnen wie die blonde Ella, die schon seit 15 Jahren dabei ist. Damals war sie Schülerin in Waldsee, heute ist sie mit fast perfektem Deutsch Betreuerin und leitet ein Kanu- und Naturkundeprogramm, bei dem Teenager auf Deutsch alles über die Natur erfahren können.

Boris ist nicht wegen des Waldes hier. Der Junge aus dem Nachbarbundesstaat North Dakota findet Sauerkraut und Kettenhemden toll. „Vor zwei Jahren kam er plötzlich mit der Idee, er wolle Deutsch lernen“, sagt seine Mutter, Charlotte Siemens, eine Kinderpsychologin aus Fargo. Boris, der seinen zweiten Sommer in Waldsee hinter sich hat, spricht bereits fließend Deutsch. „Ich finde die Grammatik gaaanz toll“, schwärmt er, vom deutschen Akkusativ und den unbestimmten Artikeln kann er nicht genug bekommen. Im nächsten Jahr möchte er unbedingt wiederkommen. Dann soll beim Mittelalterprogramm „Märchenwald“ auch Kettenhemdenbau auf dem Plan stehen.

Charlotte Siemens und ihr Mann haben beide deutsche Vorfahren, doch zur Sprache und Kultur der Großeltern haben sie, wie die große Mehrheit der geschätzten rund 50 Millionen deutschstämmigen US-Amerikaner, keinen Bezug mehr. Boris’ Eltern, beide Akademiker, hatten von Concordia als dem besten Ort in ganz Nordamerika gehört, um Sprachen zu lernen – und ihren Sohn angemeldet. Nun will auch sein jüngerer Bruder mitkommen.

Nach der Abschlussfeier kauft sich die 15-jährige Laura im „Café Einbeck“ mit ihren letzten Euros noch schnell ein paar Haribo-Bärchen. Im Radio dudeln die Prinzen „Küssen verboten“, und am Tresen werden jetzt tütenweise Ritter Sport Schokolade, Toblerone und Überraschungseier – nur gegen Euros – verkauft. Lauras Eltern sind US-Italiener aus Kalifornien. Weil der Vater mit der Army in Deutschland stationiert war, ist die ganze Familie zu Deutschlandfans geworden, jedes Jahr machen sie Urlaub in Süddeutschland. „Ich liebe Bayern“, sagt Laura, „und Waldsee und deutschen Hiphop und Afri-Cola.“

„Wir haben tatsächlich den einzigen Afri-Cola-Kiosk in ganz Nordamerika“, erklärt Dan Hamilton, der Bürgermeister von Waldsee ist und hier nur „Karl“ heißt. Ein Sponsor, der einen Getränkeverlag betreibt, importiert die Afri-Cola eigens für die Waldsee-Gemeinde.

Nur so funktioniert es. Concordia existiert, weil zahllose Unterstützer und ehrenamtliche Aktivisten wie Dan Hamilton beharrlich den Traum einer besseren Sprachenschule leben. Längst ist aus dem anfänglichen Zeltprojekt eine perfekte Weltsimulation geworden, in der Sprache der Schlüssel zu Kultur, Geschichte, den Konflikten und dem Humor eines Landes ist. Hamilton legt Wert darauf, eine deutschsprachige Kultur zu vermitteln – also gibt es auch ein Schweizer und ein österreichisches Haus und einen zweisprachigen Helvetia-Sender, denn die Kleinstaaterei der alten Welt will er in Minnesota nicht mitmachen.

Überhaupt wundert sich Dan Hamilton, im wahren Leben Direktor des Zentrums für transatlantische Beziehungen der renommierten Washingtoner Johns-Hopkins-Universität, über die chronische Kurzsichtigkeit der Europäer. Er und seine Mitstreiter aus den anderen Sprachdörfern haben immer wieder bei den jeweiligen Regierungen um Unterstützung für Concordia angefragt. Die Reaktionen waren meist verhalten oder blieben ganz aus. Auch das seit letztem Jahr ins Leben gerufene arabische Dorf sucht trotz der weltpolitischen Lage dringend Sponsoren. Einzig die Volksrepublik China war begeistert von dem effektiven Lernkonzept und lud Concordia gleich stürmisch ein, Englischdörfer in China aufzubauen. Mittlerweile gibt es davon zwischen Schanghai und Peking schon 14 Stück.

Concordia existiert nur, weil zahllose Unterstützer und ehrenamtliche Helfer beharrlich den Traum einer besseren Sprachschule leben

„Zahlreiche deutsche Stiftungen und Institutionen wollen in den USA mit viel Geld Führungskräfte für Deutschland interessieren“, sagt Hamilton und rollt die Augen. Auf die Idee, die ganz Jungen zu fördern, komme aber leider niemand. „Die Kids lernen so effektiv, weil wir die Sprache spielerisch und mit viel Sport und Spaß vermitteln.“ Wer dann einmal angebissen hat, bleibt oft ein Leben lang Freund jenes Landes, dessen Sprache er als Kind erlernt hat. „Concordia tut so viel für das deutsche Image und kann längst sagen, heutige transatlantische Führungskräfte schon in Kinderjahren geprägt zu haben.“

Hamilton fällt jedes Jahr etwas anderes ein. Neues Lieblingsthema ist das Biohaus in Waldsee – für ihn sagt der Bau alles über das moderne ökologische Deutschland. Neben Traditionellem wie Fachwerkhäusern und Lederhosen will Hamilton, dass die Kids lernen, dass „Deutschland ein topmodernes Land ist, das echt was zu bieten hat und tolle Sachen macht“. Dass Deutschland sich sonst eher als Land mit schwieriger Geschichte präsentiert, macht ihn ungeduldig. „Wir Amerikaner sind eben so, wir wollen nur mit Leuten zusammenarbeiten, die auch eine Zukunft haben.“

Lange hat er nach Sponsoren gesucht, bis schließlich die Stiftung Umwelt die 600.000 Euro spendiert hat, die das Biohaus und der Schweizer Architekt kosteten. Nun steht mitten in Waldsee das einzige Energiepassivhaus in Nordamerika, ein Novum, das sogar der New York Times einen Artikel wert war. Seitdem fragen viele Eltern bei der Anmeldung: „Darf mein Kind auch mal im Biohaus übernachten?“ Sie dürfen. Besondere Highlights in dem Bau sind ein deutsches Kippfenster und die ausgeklügelte Haustechnik, die Edwin Dehler-Seter, ein ausgewanderter deutscher Biologe und Umweltexperte – in Waldsee zuständig für alles, was öko ist – natürlich auf Deutsch vorführt. Die Neugier ist so groß, dass jedes Kind nur eine Nacht im Biohaus schlafen darf, damit alle Jugendlichen einmal drankommen.

Dass es in Waldsee auch die gelben, grünen und braunen Mülltrenntonnen gibt, gesponsert von der Herstellerfirma Sulo, versteht sich fast von selbst. Denn Hamiltons pädagogisches Ziel lautet: „Wer in Concordia war, kann in Frankfurt landen und wissen, wie man in Deutschland lebt.“ Deshalb bekommt jedes Kind am ersten Tag bei der Waldseer Bank ein Konto und darf täglich bis zu 5 Euro abheben – Formular ausfüllen auf Deutsch, bitte. Es gibt ein selbst gemachtes deutsches Radioprogramm, der diesjährige DJ heißt 50 Euro. Es gibt ein Zeitungsprojekt, Theater, Chor, Tanzschule für Walzer und Polka. Die Film AG hat in diesem Jahr schon einen Haribo-Trailer gedreht, eine andere Gruppe hat eine deutsche Seifenoper geschrieben und gespielt, die Mittelalter-AG hat „Tristan und Isolde“ gelesen und danach gleich selbst ein mittelhochdeutsches Drama verfasst. Wer will, lässt sich seinen Aufenthalt für die Schule bescheinigen – vier Wochen Waldsee entsprechen einem ganzen US-Schuljahr Deutsch.

Zum Schichtwechsel gibt es für alle 250 Waldseeer zum Mittagessen Wiener Schnitzel, Makkaroni und Rotkraut. Aus der Kantine wünscht die resolute schwarze Kantinenköchin aus Minneapolis ein kräftiges „Maaahlzeit“. „Sag ich doch“, meint Hamilton, „wir sind ein ganz normales deutsches Dorf.“