Merkel tourt durch deutsche Schulen: Bildung schlecht, Bilder gut

Die Kanzlerin macht vor dem Bildungsgipfel eine Reise durch deutsche Schulen. Zwöfmal herausgeputzte Klassenzimmer, schöne Gruppenbilder und verwirrte Ministerpräsidenten.

Die Kanzlerin in der Realschule Ostheim in Stuttgart. Bild: dpa

BERLIN/ILLMENAU/STUTTGART taz Einen poetischeren Interpreten hat die Kanzlerin auf ihrer Reise nicht gefunden. Während Regierungssprecher Ulrich Wilhelm noch mit seiner Chefin durchs Schulgebäude tourt, steht José F. A. Oliver draußen in der Sonne und übernimmt schon mal den Job. "Die Kanzlerin hat sehr ernsthafte Fragen gestellt", lobt der Schriftsteller aus dem Schwarzwald, der bei Suhrkamp ein halbes Dutzend Lyrikbände veröffentlicht hat und jetzt mit Stuttgarter Realschülern literarisches Schreiben übt. Die Gedichte haben sie Angela Merkel vorgetragen, sehr düster oft und voller Frust. "Da gab es einen Anflug von Trauer auf ihrem Gesicht", sagt Oliver. "Weiß Gott, was sie dabei gedacht hat."

Seit gut drei Wochen ist die Kanzlerin jetzt auf ihrer Bildungsreise unterwegs, gut drei Wochen soll es noch weitergehen. Halbzeit also. Zwölf Termine absolviert sie insgesamt, von der Kita bis zur Hochschule, von Hamburg bis zum bayerischen Deggendorf. Aufstieg durch Bildung: Das galt einmal als ein Thema der politischen Linken. Merkel hat es sich einfach geschnappt, wie zuvor schon die Kinderbetreuung oder den Umweltschutz. Während die SPD mit ihrem pfälzischen Vorsitzenden beschäftigt war, mit der Debatte über die Linkspartei oder der Frage, ob eine vor fünf Jahren beschlossene Reformagenda richtig war oder falsch. Es geht darum, die Länder ein wenig unter Druck zu setzen vor dem Bildungsgipfel am 22. Oktober. Zu zeigen, dass man das Thema plötzlich ernst nimmt, nachdem man es bei der Föderalismusreform umstandslos an die Länder abgeschoben hatte. Vor allem aber geht es darum, rechtzeitig zum Wahlkampf die Bildarchive der Redaktionen zu füllen mit hübschen Fotos der Kanzlerin im Kreis von Schülern und Azubis.

Zwölfmal in Deutschland werden Wände gestrichen, Klassenzimmer herausgeputzt, Experimente vorbereitet. Jedes Mal wird ein Gruppenbild für den Abschied arrangiert, ein Klassenfoto wie in alten Tagen, die Großen nach hinten, die Kleinen nach vorne, Merkel mittendrin. Auf dem Boden stets ein blaues Kreuz, damit sie ihre Position nicht verfehle. "Ihr könnt euch nicht beschweren", sagt ein Mitarbeiter des Bundespresseamts vor der Goetheschule im thüringischen Ilmenau zu den Fotografen, "ihr habt doch gute Bilder bekommen heute." Das Ergebnis lässt sich am nächsten Tag bundesweit in der Presse besichtigen: Mangels konkreter Inhalte kaum kritische Artikel, dafür unkommentierte Fotoboxen, auf denen die Kanzlerin fotogen ins Mikroskop schaut.

Wahrscheinlich wirkt Merkel auf den Bildern aus Ilmenau auch deshalb so entspannt, weil sie sich zu Hause fühlt. Osten. Naturwissenschaftliche Spezialklassen. Ihr Freund Dieter Althaus ist hier Ministerpräsident. Dagmar Schipanski, CDU-Präsidentschaftskandidatin von 1999, hat die Goetheschule selbst besucht und wohnt gleich nebenan. Hier wird Merkel fast gesprächig und lässt am Ende sogar Fragen zu. Sie lobt, dass in den naturwissenschaftlichen Leistungskursen genauso viele Schülerinnen wie Schüler sitzen. Sie rühmt die Spezialklassen als Instrument gegen den Fachkräftemangel, "besonders im naturwissenschaftlichen Bereich". Die Klassen, teils mit Internatsbetrieb, sind ein Relikt der DDR-Eliteförderung. Nicht jeder hat sie in guter Erinnerung. "Wir lernten viel und behielten so gut wie nichts fürs Leben", schreibt Theaterintendant Michael Schindhelm, Merkels einstiger Zimmergenosse in der Ostberliner Akademie der Wissenschaften und Absolvent einer Chemie-Spezialklasse in Merseburg.

Die Politiker betrachten ein Tanzprojekt der Realschule. Bild: dpa

Normalklässler oder Spezialklässler, das ist hier die entscheidende Frage. Im zweiten Stock ist die Wand eines ganzen langen Flurs bedeckt mit Urkunden, Preise bei Jugend forscht und beim Mannschaftswettbewerb Mathematik. Im Eckzimmer ist ein Tisch aufgebaut, es gibt Apfelsaft und Kekse, hier diskutiert die Kanzlerin mit den Lehrern, nachdem sie die Experimente der Spezialklassen bestaunt hat. Draußen haben sich unterdessen einige der Normalos aufgebaut. Einer trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Spielverderber". An der Diskussion im Eckzimmer habe nur die Schülersprecherin teilnehmen dürfen, "und die hat einen Text vorgegeben bekommen", beschweren sie sich. "Ich hätte mir gewünscht, dass Frau Merkel unverhofft erschienen wäre", sagt eine Schülerin, "einfach mal so n Blitzbesuch, damit sie sieht, wie es wirklich ist."

Seit Jahren mahnen Experten, Aktionsräte und Organisationen wie die OECD, dass Deutschland mehr in die Bildung investieren müsse. Am 22. Oktober will sich nun Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ländervertretern in Dresden zu einem "Nationalen Bildungsgipfel" treffen. Ein Ausweg aus der Bildungsmisere? Oder reine Symbolpolitik? Die taz beschreibt in den kommenden Wochen in einer neuen Serie, wo die drängendsten Probleme auf der Baustelle Bildung liegen - und wie sie sich womöglich lösen ließen. Der Blick richtet sich vor allen Dingen auf die Kellerkinder des Bildungssystems: Die rund 80.000 Schülerinnen und Schüler, die jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen. Die 400.000 Sonderschüler, die es auf dem Ausbildungsmarkt besonders schwer haben. Oder die rund 500.000 Jugendlichen, die in Übergangsmaßnahmen geparkt werden, anstatt auf dem klassischen Weg einen Beruf erlernen zu dürfen. TAZ

Egal, wo Merkel hinkommt, der örtliche Ministerpräsident ist immer schon da. Man weiß nicht recht, ob als Aufpasser oder als gelehriger Schüler. Das wird erst der Bildungsgipfel im Oktober zeigen. "Es geht nicht darum, durch die Reise irgendwelche Kompetenzen zu verschieben", sagt die Kanzlerin in Ilmenau artig. Vor dem braven Althaus braucht sie sich nicht zu fürchten. Kein Wort davon, dass Thüringens Bildungspolitik derzeit ohne jede Perspektive ist. Ein Gericht hat die Landesregierung gerade verpflichtet, allen beamteten Teilzeitlehrern einen Vollzeitjob anzubieten. Dafür geht jeder Euro drauf, der zwischen Suhl und Altenburg zusätzlich ins Bildungswesen fließt. Die Einstellung von Junglehrern ist auf Jahre hinaus unmöglich, eine Schulreform personell kaum umzusetzen.

In Berlin trifft Merkel auf Klaus Wowereit. So etwas wollte sie eigentlich vermeiden. Von den sieben Bundesländern, in denen die SPD mitregiert, besucht sie auf ihrer Reise nur zwei. Die beiden Regierungschefs, Kurt Beck und eben Wowereit, hatte sie zuerst gar nicht eingeladen. Beck, damals noch SPD-Vorsitzender, schmollte und blieb fern. Wowereit kommt und stiehlt der Kanzlerin die Schau, Freitagmorgen um neun im Bildungswerk Kreuzberg, einer Berufsschule für überwiegend türkische Jugendliche, die kaum Chancen auf eine richtige Lehrstelle haben. Wowereit scherzt, piekst die Kanzlerin mit einem der Metallvögel, die in der Ausbildungswerkstatt gebastelt wurden. Der Bürgermeister posiert mit den Azubis auch dann noch für Fotos, als die Kanzlerin längst aufgebrochen ist zum nächsten Termin. Vor allem aber beherrscht Wowereit die Nachrichten. Zehn Milliarden Euro müsse der Bund im Oktober schon locker machen für Kitas oder für Sozialarbeiter in den Schulen, diktiert er in die Mikrofone, kaum dass er den Kreuzberger Gewerbehof betreten hat. "Wowereit will vom Bund Milliarden für Bildung", melden die Agenturen.

Merkel dagegen schafft es an diesem Tag nur mit einem Fauxpas in die Meldungsspalten. Ein einziges Mal lässt sie die Schriftpresse mit ins Gebäude, und prompt geht es schief. Sonst kann man sie nur dabei beobachten, wie sie den Schülern unentwegt ein unbeholfenes "Hallo" entgegenruft. Das Bad in der Menge, das ist auch nach drei Jahren Kanzlerschaft nicht ihre Disziplin. Jetzt aber steht sie in der Ausbildungsküche des Kreuzberger Betriebs, auf dem Tisch haben die Schüler Kräuter ausgebreitet. Merkel spielt die Lehrerin, hebt einen Zweig in die Höhe und fragt einen Auszubildenden, wie dieses Kraut wohl heiße. Der weiß es nicht. "Lavendel", sagt Merkel. Doch es ist Rosmarin. "Fehler vom Amt", schiebt sie halblaut hinterher.

Nicht mal die Polizei zollt in der Hauptstadt der Kanzlerin Respekt. Kaum zu verfehlen sei das Haus, das Merkel besuche, meint der Beamte an der nächsten Straßenecke. "Ganz frisch getüncht für die Kanzlerin", sagt er maliziös. Auch drinnen leuchtet alles in frischem Weiß. Nur die Wände des Herrenklos sind vollgekritzelt wie immer. Aber da kommt die Kanzlerin sowieso nicht hin.

Zwanzig Minuten später ist Merkel schon wieder im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale. Die Kreisvorsitzenden der Partei haben sich zu einer Konferenz versammelt, die Vorsitzende soll sie auf den Wahlkampf einstimmen. Merkel redet über das Wahlziel Schwarz-Gelb, fordert aber auch, man solle die Leistungen der großen Koalition nicht kleinreden. Viele der Funktionäre begeistert das nicht. Wo bleibt die Wirtschaftskompetenz, wird Merkel gefragt, der Sinn der Gesundheitsreform in Zweifel gezogen, Steuersenkungen verlangt. Nach Bildung fragt niemand. Das Thema, das der Union in den Ländern zuletzt herbe Verluste bescherte, bewegt den klassischen CDU-Funktionär nicht wirklich.

Das war auch schon so, als Merkel Mitte Juni in einem unterkühlten Saal des Bundeswirtschaftsministeriums zum sechzigsten Jahrestag der Währungsreform sprach, ihre Bildungsreise ankündigte und die "Bildungsrepublik Deutschland" ausrief. Das "zentrale Versprechen" der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards liege darin, behauptete sie, "Einstieg und Aufstieg zu ermöglichen, entsprechend den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten." Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ätzte prompt zurück, Bildung sei "nicht der Kern der sozialen Marktwirtschaft".

Solchen Widerspruch muss Merkel bei ihrem Besuch in Stuttgart nicht befürchten. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger ist zahm geworden seit dem Eklat um seine Gedenkrede für den Amtsvorgänger Hans Filbinger, als er den NS-Marinerichter zum Widerstandskämpfer stilisierte. Nur wenige Wochen nach Merkels Berliner Bildungsrede kündigte Oettinger im Stuttgarter Landtag selbst eine "Qualitätsoffensive Bildung" an. Das Geld, das durch sinkende Schülerzahlen frei wird, will er in eine bessere Qualität des Schulsystems stecken. Damit verspricht er schon jetzt, was die Kanzlerin im Oktober von den Ländern fordern will. Der Ministerpräsident steht allerdings auch intern mächtig unter Druck. Vierhundert Grund- und Hauptschulchefs aus dem Bundesland hatten die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems gefordert. Der Versuch der Landesregierung, die Misere mit billigen Hilfslehrern zu beheben, kam bei Lehrern und Eltern nicht gut an.

Ein wenig aufgeregt wirkt Oettinger in Gegenwart der Kanzlerin, fast sogar verwirrt. "Zum Abschied noch einmal ein herzliches Willkommen", sagt er ganz am Schluss. Die Kanzlerin grinst. Es gab schöne Bilder hier in der Realschule Stuttgart-Ostheim, die in Merkels Reiseprogramm mit ihren 90 Prozent Migranten die Rolle der Problemschule erfüllt. Es ist aber eine Problemschule auf Schwäbisch, in einer Stadt fast ohne Arbeitslosigkeit. Unter den Migranten gibt es keine dominierende Community, die Schüler kommen aus der Türkei genauso wie aus Polen, aus Portugal oder aus Ghana. Wer sich auf dem Schulhof mit seinen Mitschülern verständigen will, muss Deutsch sprechen. Es sieht alles sehr adrett aus hier, hässliche Bilder muss Merkel nicht befürchten.

Wohlwollend schaut auch der Lyriker José Oliver auf das Treiben. Doch sein Ratschlag für den Bildungsgipfel wird der Kanzlerin kaum weiterhelfen. "Ich hätte mir statt eines Gipfels eher Seitentäler gewünscht", sagt er. "Und am Ende dann das Meer, in das alles mündet."

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