Wahlsieg als Generationserlebnis: Die Obama-Revolution

Obama steht für die Hoffnung, dass das Versprechen der Menschen- und Bürgerrechte für die Mehrheit der US-Gesellschaft eingelöst wird. Die Wahl war ein Generationserlebnis.

Aussichten auf einen neuen "New Deal" besser denn je: Michelle und Barack Obama Bild: dpa

Auf Rausch folgt Ernüchterung. Sicher. Aber bevor wir dieser wahren wie trivialen Einsicht folgen, bevor wir uns dem Berg von Problemen zuwenden, mit denen Barack Obama konfrontiert ist, bevor wir den engen Spielraum abmessen, mit dem eingedenk der ökonomischen Lage jede Reformpolitik in den USA rechnen muss, sollten wir einen Moment innehalten. Wir sollten uns vergegenwärtigen, welche Ideen und Initiativen dieses unerhörte und unglaubliche Ereignis ermöglichten: die Wahl eines afroamerikanischen Präsidenten.

Zwei Jahrhunderte lang bildete die angloprotestantische Kultur den Kern der amerikanischen Identität. Sprache, Sitten und Gebräuche, Religion, das Rechtsverständnis - alles englischer Import. Auf dieser Grundlage entwickelte sich, als die USA vom Siedler- zum Einwandererland wurden, die Ideologie des "amerikanischen Credos". Nicht das Territorium der USA, nicht die "Heimat", nicht Herkunft und Abstammung standen im Mittelpunkt dieser Ideologie, sondern die Zustimmung zu einer Reihe naturrechtlich gefasster und in der Verfassung niedergelegter Prinzipien. Freiheit, Würde, Chancengleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum, "Glück". Amerikaner wurde man demnach nicht durch Zuschreibung, sondern kraft dieser geteilten Prinzipien. Das "Credo" beherrschte auch das Denken derer, für die diese Grundwerte unerreichbar waren. Die Arbeiterkämpfe der Dreißigerjahre, die Bürgerrechtsbewegung bis zum Tod Martin Luther Kings, anfänglich auch die Friedensbewegung bezogen sich auf das Versprechen des Credos. Sie alle zogen ihre Kraft aus der Diskrepanz zwischen Versprechen und Wirklichkeit. Denn offensichtlich war die Ideologie des "Credos" vereinbar mit der Ausrottung der Indianer, der Sklaverei und massiven Formen der Diskriminierung, so dass der Historiker Arthur Schlesinger resümieren konnte, die USA seien "über die längste Periode ihrer Geschichte eine rassistische Nation" gewesen.

Erst in den Sechzigerjahren begann der Siegeszug der "subnationalen" und der Gruppenidentitäten. Die ethnisch-kulturelle und soziale Zugehörigkeit, die sexuelle Orientierung, religiöse Bindungen traten in Konkurrenz mit der überkommenen nationalen Identität. Konservative Wissenschaftler wie Samuel Huntington beklagten noch vor wenigen Jahren, dass der Multikulturalismus den Traditionsbestand des amerikanischen Credos auflöse. Insbesondere die Elitenkultur nehme unter dem Einfluss der Globalisierung kosmopolitische Züge an.

In dieser Phase des Übergangs und der Neuformierung ergriffen die Konservativen die Chance, die sich ihnen im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001 bot. Sie nutzten die Woge des amerikanischen Patriotismus, um ihn in die Bahnen eines einfältigen, militaristisch dominierten Chauvinismus zu lenken. Außenpolitisch bedeutete das Krieg. Innenpolitisch lebte diese Art von Identitätspolitik von Feinderklärungen, von generalisiertem Misstrauen gegenüber Muslimen, von der Zerstörung demokratischer Rechte und von einem nicht öffentlich geäußerten, aber subkutan wirksamen Rassismus. Das war die Form der Identitätspolitik, die seitens der Republikaner im Wahlkampf praktiziert wurde und die ihr Kandidat, wenngleich widerwillig, übernahm, ehe er im Moment seiner Niederlage zum Nonkonformismus zurückfand.

Dieser Propagandalinie der Rechten setzte Obama eine ganz andere Form von Patriotismus entgegen. Er interpretierte den Begriff "Vereinigte", das "U" im Namen der USA, nicht juristisch, nicht als staatsrechtlichen Ausdruck des Bundes der Einzelstaaten, sondern gesellschaftlich, als Bündnis aller sozialen, politischen, ethnischen und religiösen Kräfte, die sich für einen Neuanfang in den USA zusammengeschlossen haben.

Diese "Vereinigung" ist bei Obama nicht nur eine Addition von Gruppeninteressen, sondern wird durch die Hoffnung zusammengehalten, dass das Versprechen der Menschen- und Bürgerrechte erstmals in den USA für die große Bevölkerungsmehrheit eingelöst, also das alte amerikanische Credo für sie Wirklichkeit werde.

Für die Linke allgemein und für die deutsche Linke im Besonderen ist es schwer, sich mit einer noch so progressiv auftretenden Form des "Nationalstolzes" anzufreunden. "Stolz auf unser Land" - es war der linke Philosoph Richard Rorty, der den Satz formulierte: "Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den Einzelnen." Wer eine Nation dazu bringen wolle, sich anzustrengen, müsse ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte. Gegen die Vorherrschaft der "subnationalen" Identitätssuche gewandt, argumentierte er: Der Stolz, schwarz oder homosexuell zu sein, sei eine völlig vernünftige Reaktion auf Erniedrigung. "Doch wenn sie einen daran hindert, als Bürger der USA stolz zu sein, sein Land für reformfähig zu halten oder sich mit Heteros und Weißen zu Reforminitiativen zusammenzufinden, dann ist sie ein politisches Unglück."

Damit hat Rorty den Kern von Obamas Patriotismus getroffen. Nicht der Stolz auf das abstrakte Gebilde USA und dessen Geschichte, sondern der Stolz auf die großen Emanzipationskämpfe innerhalb dieser Geschichte. Denn beim Streit um die Geschichte geht es letztlich um die Frage: Welche Hoffnungen sollen wir uns zu eigen machen und welche sollen wir aufgeben? Aber ist diese Aufforderung zur kollektiven Hoffnung nicht bloßer Schein? Wird Obamas Anhängerschaft nicht das Schicksal so vieler sozialer Bewegungen erleiden, von denen es heißt: Sie kommen und gehen, hauptsächlich gehen sie?

Man hat innerhalb des Bündnisses für Obama als treibende Kräfte - jenseits von ethnischen und sozialen Trennlinien - eine junge Generation ausfindig gemacht, die sich erstmals politisch engagiert hat. Man sollte die persönlichkeitsbildende Kraft dieses Generationserlebnisses, die anhaltende politische Wirkung dieser Initiation nicht unterschätzen. Engagieren sich zuvor unpolitische Menschen, erweitert sich ihr Horizont, und sie werden aus der Einförmigkeit ihrer Routine herausgerissen. Wohl deshalb stellten so manche Beobachter des Wahlkampfs bei Obamas Unterstützern eine "neue Ernsthaftigkeit" fest. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der amerikanischen Demokratie, sprach vom Recht jeder Generation auf Revolution. Dieses Recht, nichts ungeprüft hinzunehmen, ist tief im progressiven Verfassungsverständnis der USA angelegt. Obama wird davon profitieren.

In seinem kurz vor der Wahl veröffentlichten Statement hat der amerikanische Ökonom Paul Krugman Obama dafür kritisiert, dass er erst spät, nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank, die Grundsätze konservativer Wirtschaftspolitik angegriffen habe. Krugman stimmte der späten Kritik Obamas zu. Er zitiert ihn mit dem Satz "Nach ihnen (den Konservativen) sollten wir denen mehr und mehr geben, die schon das meiste haben. Dies in der Hoffnung, dass dann der Wohlstand zu allen anderen durchsickern werde. Die jetzige Krise ist das finale Urteil über diese gescheiterte Philosophie." Krugmann schlussfolgert, dass die Aussichten auf einen neuen "New Deal" jetzt weit besser seien als noch zu Beginn des Wahlkampfs.

Krugmans Hoffnungen basieren darauf, dass die Forderung nach dem Wechsel sich zu einem ökonomischen Reformprogramm verdichten können, wie es sich - Schritt für Schritt und keineswegs planvoll - in der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts herausgebildet hat. Er sieht in Obama einen Pragmatiker mit Stehvermögen, ganz so wie es Roosevelt war. Und er sieht die Chance einer nachhaltigen, von verschiedensten Milieus unterstützten Reformbewegung.

Wie schön, wenn er Recht behielte.

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