60 Jahre Erklärung der Menschenrechte: Das schlechte Vorbild des Westens

Die Menschenrechte seien nicht mehr unteilbar, heißt es aus Afrika und Asien. Mitschuld trägt der Westen, weil er seit Jahren die Normen des Völkerrechts untergräbt.

Permanenter Verstoß gegen grundlegende Menschenrechtsnormen: US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba Bild: dpa

Für den 91-jährigen Stephane Hessel, einzig noch lebender Mitverfasser der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" (AEM), markierte die Verabschiedung dieses Dokumentes durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen heute vor 60 Jahren eine "kopernikanische Wende im Völkerrecht". Hessel, Überlebender der beiden Nazi-Konzentrationslager in Ravensbrück und Dora, war ab 1946 als junger französischer UNO-Diplomat in New York Mitglied der 18-köpfigen Arbeitsgruppe, die die 30 Artikel der besagten Charta formulierte. Für ihn sei "die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die wichtigste Erneuerung, durch die sich die Vereinten Nationen nicht nur vom 1919 gegründeten Völkerbund, sondern auch von allen anderen früheren Formen internationaler Zusammenarbeit unterscheiden", erklärte er anläßlich des fünfzigsten Geburtstages der Erklärung im Dezember 1998 gegenüber der taz.

Damals war die Menschenrechtswelt noch einigermaßen in Ordnung. Doch inzwischen wird der internationale Menschenrechtsdiskurs immer stärker von einer Kontroverse bestimmt, die längst überwunden schien: Sind die Menschenrechtsnormen sowie die knapp 70 konkreten Verträge zum Menschenrechtsschutz, die mit und auf Basis der besagten Erklärung im Rahmen der Vereinten Nationen international vereinbart wurden, lediglich ein Konstrukt westlicher, überwiegend christlich geprägter Demokratien und für andere Religionen und Regierungsformen nicht verbindlich? Oder sind diese Normen sowie Verträge gültig und einklagbar für ausnahmslos alle BewohnerInnen dieser Erde?

Letzteres schien kurz nach Ende des Kalten Krieges globaler Konsens zu sein. "Die Menschenrechte sind universell, unteilbar, bedingen einander und hängen miteinander zusammen", bekräftigte im Juni 1993 die 182 Teilnehmerstaaten der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in ihrer Schlusserklärung. Auch die Außenminister aller asiatischen und islamischen Staaten, die die "Universalität" und "Unteilbarkeit" der Menschenrechte im Vorfeld der Konferenz noch in Frage gestellt hatten, stimmten zu.

Entscheidend für dieses Ergebnis war, dass zuvor Menschenrechtsorganisationen aus allen Weltregionen in einer gemeinsamen Erklärung auf die "Unteilbarkeit" und universellen Geltung bestanden hatten. Mit der Anerkennung des "Rechts auf Entwicklung" erfüllte die Wiener Gipfelerklärung zudem eine zentrale Forderung der Länder des Südens, die die reichen Industriestaaten des Nordens jahrzehntelang abgelehnt hatten. Damit schien der seit Beginn des Kalten Krieges herrschende Konflikt, ob die vom Westen favorisierten politischen und bürgerlichen Freiheitsrechte, oder die vom Osten und Süden betonten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte Priorität hätten, ebenso überwunden wie der vor allem zwischen westlichen und asiatischen Staaten geführte Streit über die Bedeutung "individueller" versus "kollektiver" Menschenrechte.

1996 erklärte der damalige Generalsekretär der UN, Kofi Annan, die Umsetzung aller seit 1948 vereinbarten Menschenrechte zur "wichtigsten Querschnittsaufgabe" für das gesamte UNO-System und stieß damit nirgendwo auf Widerspruch. Und mit Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit, Völkermord und Kriegsverbrechen wurde 1998 endlich ein global zuständiges Instrument zur Ahndung schwerster Menschenrechtsverletzungen geschaffen.

Doch seitdem sind die alten Kontroversen wieder aufgebrochen und neue hinzugekommen. Wie kein anderes Ereignis in den ersten zehn Jahren nach Ende des Kalten Krieges trug der als "humanitäre Intervention" gerechtfertigte völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Nato gegen Serbien-Montenegro im Frühjahr 1999 in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu der Wahrnehmung bei, dass der Westen bei Menschenrechten und Völkerrecht mit doppelten Standards operiert.

Warum wurde Anfang 1994 nicht gehandelt, als in Ruanda auch für westliche Regierungen klar erkennbar war, dass ein Völkermord größten Ausmaßes vorbereitet wurde?

Warum tut der Westen nichts, um die völkerrechtlich verbindlichen UN-Resolutionen durchzusetzen, in denen Israel vor 40 Jahren zum Rückzug von allen im Junikrieg von 1967 besetzten Gebieten aufgefordert wird? Diese Fragen wurden auch schon vor dem Nato-Krieg gegen Serbien-Montenegro gestellt. Doch seit diesem Krieg verstärkte sich nicht nur der Eindruck westlicher Doppelstandards in weiten Teilen der "restlichen Welt", sondern es setzte sich auch der Verdacht fest, der Westen benutze humanitäre Begründungen für Kriege, um politische, wirtschaftliche und geostrategische Interessen zu kaschieren.

All dies hat die Glaubwürdigkeit des Westens mit Blick auf die Menschenrechte erheblich beschädigt. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust des Westens macht es Regierungen in anderen Regionen der Welt leichter, notwendige Kritik an ihren schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zurückzuweisen. Durchaus aktuelle Beispiele hierfür sind die Regierungen von Zimbabwe und Sudan.

Darüberhinaus hat der Westen seine Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte geschwächt und unterminiert, weil er viel zu wenig getan hat für die praktische Durchsetzung des 1993 in Wien proklamierten "Rechts auf Entwicklung" in den Ländern des Südens. Das egoistische Verhalten der großen Wirtschaftsmächte in Amerika, Europa und Asien im Rahmen der Welthandelsorganisation oder die völlig unzureichenden Maßnahmen der reichen Industrienationen, das in der Erklärung der Menschenrechte verbriefte "Recht auf Ernährung" für die inzwischen wieder knapp eine Millarde Hungernden dieser Welt durchzusetzen. All das schwächt die Prinzipien der "Universalität" und "Unteilbarkeit" der Menschenrechte.

Erheblich forciert wurde diese problematische Entwicklung seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Der seitdem unter Führung der Vereinigten Staaten weltweit betriebene "Krieg gegen den Terrorismus" sowie der erneut auch mit der Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie gerechtfertigte, völkerrechtswidrige Irak-Krieg von 2003 forderten hundertausende unschuldige Opfer. In Guantánamo und an anderen, zum Teil geheimen Orten verstößt die demokratische "Führungsmacht der freien Welt" seit Ende 2001 permanent gegen grundlegende Menschenrechtsnormen, die Genfer Konventionen und die Anti-Folterkonvention der Vereinten Nationen.

Die Vereinigten Staaten klassifizieren die Opfer ihrer Verstöße in völkerrechtswidriger Weise als "rechtlose Kämpfer (unlawful combatants)". Die Staaten der Europäischen Union haben diese fatale Politik der Vereinigten Staaten trotz einiger Kritik bis heute im Wesentlichen toleriert oder gar unterstützt, z.B. durch die Zulassung von CIA-Flügen mit illegal gefangenen Terrorverdächtigen. Russland hat sich durch die Politik der USA ermutigt gefühlt, beim Umgang mit Terrorverdächtigten beispielsweise in Tschetschenien und anderswo ebenfalls Menschenrechte außer Kraft zu setzen.

Die chinesische Regierung fühlt sich weit weniger als noch in den neunziger Jahren durch Kritik an ihren Menschenrechtsverletzungen herausgefordert. Und im Kontext der seit dem 11. September 2001 forcierten Polarisierung zwischen westlicher und islamischer Welt werden Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechtsnormen zumindest in Teilen der islamischen Welt wieder verstärkt bestritten und als angeblich "westliche" abgelehnt. Im Ergebnis dieser Entwicklung der letzten zehn Jahre wurde die normative Kraft der seit 1948 international vereinbarten Menschenrechte erheblich geschwächt.

Diplomaten der UN aus Pakistan und anderen asiatisch-islamischen Staaten in New York und Genf treten inzwischen ganz offen mit dieser Behauptung unterschiedlicher Menschenrechtstraditionen und -kulturen auf und fordern unter Verweis auf die seit 1948 erheblich veränderten weltpolitischen Konstellationen eine Revision der Menschenrechtscharta. Sie fordern sogar eine Neudefinition von Menschenrechten.

Doch Stephane Hessel, der sich in Frankreich immer noch aktiv engagiert für rechtlose Menschen ohne Ausweispapiere ("Sans papiers"), können diese Rückschritte der letzten zehn Jahre in seinem Grundoptimismus nicht beirren. Ihn ermutigt, "dass die Zahl der Demokratien auf der Welt wächst, und sich immer mehr junge Menschen für die Einhaltung der Menschenrechte engagieren".

"Ich hoffe", erklärte Hessel in einem Interview anlässlich des 60. Jahrestages der Erklärung der Menschenrechte, "dass die Wahrung der Menschenrechte schon bald wieder das gemeinsame Ziel der Nationen dieser Welt wird, jetzt wo die USA eine armselige Ära endlich hinter sich haben."

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