Allein gelassen bei Spätabtreibung: Und dann war Lea weg

Der Bundestag diskutiert über das ob und wie einer Beratungspflicht bei Spätabtreibungen. Dass in unserer Gesellschaft ein behindertes Kind als Schaden angesehen wird, ist kein Thema.

Und immer schwingt die Hoffnung mit, dass nichts "Auffälliges" gefunden wird. Bild: dpa

Sie trank Rotwein. Ein Glas nach dem anderen. Sie war im fünften Monat schwanger und trank und trank. Tagsüber fing sie an, abends waren mehrere Flaschen leer. Es war eine Woche vor Weihnachten. Jutta Gelhaus* trank seit dem Telefongespräch mit dem Gentestlabor: Trisomie 18. Edwards-Syndrom.

Dem Bundestag liegen fünf Anträge zum Thema Spätabtreibung vor. Die Anträge, über die am Donnerstag abgestimmt wird, betreffen Abtreibungen mit medizinischer Indikation; das sind Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche, bei denen der Arzt die "Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren" (Paragraf 218a) bescheinigt. Die Union will Ärzte verpflichten, Frauen nach der Pränataldiagnostik auf Möglichkeiten der psychosozialen Beratung hinzuweisen und ihnen eine dreitägige Bedenkfrist einzuräumen. Das Strafgeld bei Versäumnis soll auf 10.000 Euro verdoppelt werden. Dazu sollen die Fälle einzeln statistisch erfasst werden. Die FDP möchte in einem zweiten Antrag eine ähnliche Gesetzesänderung, ohne das Bußgeld zu erhöhen. Der dritte Antrag einer Gruppe von SPD-Abgeordneten um Kerstin Griese lehnt die genaue statistische Erfassung ab. Ansonsten gleicht ihr Antrag dem der Union. Die Frauenpolitikerinnen von SPD um Christel Humme und die Grünen wollen das Schwangerschaftskonfliktgesetz nicht eigens ändern. Sie fordern im vierten Antrag eine Änderung der Mutterschaftsrichtlinien. Weiteren Zwang lehnen sie ab. Die Linke will in einem fünften Antrag Ähnliches und drängt zusätzlich auf eine aktivere Behindertenpolitik. Einzelne Grüne wollen für die zweite Lesung weitere Änderungen vorschlagen: Thilo Hoppe möchte eine Pflichtberatung der Schwangeren. (OES)

Die 36-jährige Leipzigerin hat gegoogelt, hat gelesen. Herzfehler, Organfehler, vergrößertes Kleinhirn, Fehlbildungen der Extremitäten. Viele Kinder sterben vor der Geburt, die meisten Überlebenden erreichen ihren ersten Geburtstag nicht. Die Gynäkologin sagte, dass es die Möglichkeit der Spätabtreibung gibt. "Aber das müssen Sie allein entscheiden." Seitdem trank Jutta Gelhaus. "Wie ein Loch", sagt sie.

Allein entscheiden. Dass es Beratungsstellen gibt, die einen auf diesem Weg begleiten, erwähnte die Frauenärztin erst, als Jutta Gelhaus sie fragte. Das ist kein Einzelfall. Schwangere werden öfter nicht darauf vorbereitet, dass die Ergebnisse der pränatalen Feindiagnostik ungeheuerliche Folgen für sie haben können. In einer Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gab 2006 die Hälfte der befragten Schwangeren an, sie habe nach der pränatalen Diagnostik nichts von der Möglichkeit einer psychosozialen Beratung und Begleitung erfahren.

Es ist diese Situation, die viele PolitikerInnen unerträglich finden. Deshalb wird der Bundestag heute in erster Lesung über fünf verschiedene Anträge zur Pflichtberatung bei Spätabtreibung debattieren. Betrachtet man Jutta Gelhaus Entscheidung, dann sind die Differenzen zwischen diesen Anträgen allerdings Nebenkriegsschauplätze.

Das Kind im Bauch von Jutta Gelhaus gewinnt plötzlich eine andere Realität. Ihre Tochter wird sterben. Sie nennt sie Lea. Und sie entscheidet, dass sie Lea beim Sterben helfen will. "Ich wollte auf dieses Sterben nicht passiv warten. Ich war so ohnmächtig, ich wollte irgendetwas selbst tun können. Ich wollte machen, dass sie einen guten Tod hat und keinen qualvollen."

Am 20. Dezember sitzt sie bei der Gynäkologin, die den Abbruch plant. Klar ist, Jutta Gelhaus muss ihre kleine Tochter gebären. Für eine herkömmliche Abtreibung ist sie zu groß. Lea wird zu schwach sein, um diese Geburt zu überleben. "Ich war in einer Mühle. Und die Mühle mahlte einfach vor sich hin", beschreibt Gelhaus ihr Gefühl. Sie selbst hat in dieser Mühle keinen Platz. Sie will krankgeschrieben werden. "Das darf ich nicht wegen einer Abtreibung, das ist verboten", meint die Gynäkologin. Man einigt sich auf "psychische Überlastung". Die christlichen Krankenhäuser machen keine Abtreibungen, da bleibt nicht viel übrig zum Aussuchen. Sie bekommt einen Termin in vier Tagen. Weihnachten. Da wehrt sich Jutta Gelhaus. Die Mühle quietscht. Nicht Weihnachten, sagt sie. Erst im neuen Jahr.

Es ist nicht immer so wie bei Jutta Gelhaus. Es gibt ganze Verbünde von Praxen, Humangenetikern und Beratungsstellen, die zusammenarbeiten. In der Praxis des Gynäkologen Matthias Albig etwa, einer der größten Praxen für pränatale Feindiagnostik in Berlin, gibt es eine eindeutige Linie: "Wenn ein Spätabbruch anstehen könnte, wird das mit allen acht Ärzten hier besprochen. Dann werden Experten zurate gezogen. Und wir erklären, welche psychosozialen Beratungsstellen sich mit diesem Problem auskennen. Dafür gibt es selbstverständlich eine Bedenkzeit."

Jutta Gelhaus hat sich selbst Hilfe gesucht. Zufällig wurde es Donum Vitae, die katholische Beratungsstelle. "Die Beraterin dort war wirklich ein Geschenk. Sie war einfach bei mir und meinen Gefühlen", sagt sie. Doch an Weihnachten hat Donum Vitae zu.

"Ich wollte mit Menschen darüber sprechen, dass meine kleine Lea sterben muss. Aber ich dachte: Das kann ich denen an den Feiertagen doch nicht zumuten!" Sie spricht mit ihrem Lebensgefährten. Er ist immer da. Er sagt: Trink doch nicht so viel. Aber abends trinkt er dann einfach mit. Ein schwangeres Paar an Weihnachten - sehr weit von der "hochheiligen" Schwangerschaft entfernt, die da gefeiert wird.

"Die Gesellschaft hat mit der pränatalen Diagnostik ein Problem geschaffen, das sie nicht bewältigen kann. Dann lädt sie dieses Problem der einzelnen Frau im sechsten Monat auf", beschreibt Hildburg Wegener die Situation. Sie ist evangelische Theologin und engagiert sich im Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik. Das lässt vermuten, sie sei eine Gegnerin von Jutta Gelhaus. Soll man doch der Natur ihren Lauf lassen, soll Gott entscheiden, was er mit diesem Kind will? Aber so denkt Wegener nicht: "Ich kann eine einzelne Frau verstehen, die sich die Sorge für ein behindertes Kind nicht zutraut. Aber ich frage die Gesellschaft, warum sie meint, behinderte Kinder grundsätzlich aussortieren zu müssen."

Ja, warum meint die Gesellschaft das? Viele Mütter haben nicht nur über den Zeitpunkt des Todes ihres Kindes zu entscheiden wie Jutta Gelhaus. Sie entscheiden, ob es leben darf oder nicht. Fast 90 Prozent aller Kinder mit dem Downsyndrom werden abgetrieben, zeigt eine Studie von Irmgard Nippert, Professorin für Frauengesundheitsforschung in Münster. Die medizinische Indikation sagt: nicht zumutbar.

Was ist zumutbar? Die deutsche Gesellschaft antwortet darauf relativ eindeutig. Ärzte, die Frauen nicht auf das Risiko des Downsyndroms hinweisen, müssen Schadenersatz zahlen. In Nipperts Befragung von 1.000 Schwangeren in den 90er-Jahren erklärten 86 Prozent, sie hielten es persönlich für verantwortungslos, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Denn Behinderte sind in dieser Welt nicht vorgesehen. Sie existieren nur als Randgruppe. Gerade bei der Union, die so gerne möchte, dass behinderte Kinder nicht abgetrieben werden. Die Union möchte die Behinderten weiter separieren, in Sonderschulen, eigene Werkstätten, zu Hause. Das ist das Gegenteil von "Inklusion", wie sie die UN-Konvention für die Rechte der Behinderten fordert.

Was ist zumutbar? Christina Schneider ist eine der Beraterinnen bei Pro Familia Berlin, die diese Frage mit den Paaren betrachtet und bewegt. "Wir schauen uns erst einmal die Lage an. Gibt es weitere Kinder? Ist die Mutter berufstätig? Gibt es einen verlässlichen Partner, Großeltern? Wie stehen die Eltern zu dem Kind?" Langsam entsteht ein Bild von der Familie. Wie sähe dieses Bild mit einem behinderten Kind aus? Wenn ein Fahrdienst käme, eine Assistenz im Alltag hülfe, wenn man Pflegestufe xy beantragen würde? "Aber manchmal sitzen da zwei Akademiker, die 50 Stunden arbeiten und dauernd auf Dienstreise sind", erzählt Schneider. "Die lassen sich auf so etwas nicht ein. Deren Entscheidung steht." Für andere ist die Beratung von großem Nutzen. Schneider hat eine Frau begleitet, deren Kind ebenfalls Trisomie 18 hatte. Sie hat Zeit und Ruhe gefunden, das Kind bis zu seinem Tod auszutragen. "Es war ein gut gestalteter Abschied."

Einen gut gestalteten Abschied hat sich auch Jutta Gelhaus vorgestellt. Sie hatte gelesen, dass man im Krankenhaus Anspruch auf eine Hebamme hat. Dass man das Zimmer schön herrichten kann. Dass man sich auf schonende Weise von der Plazenta trennt, die sich bei dieser frühzeitigen Geburt nicht von allein löst. Dass man sich von seinem Kind in Ruhe verabschieden kann. Der Abschied von Lea wurde ganz anders.

Keine Hebamme, kein schönes Zimmer, keine schonende Behandlung. "Ich war bloß eine Nummer." Um acht ist sie bestellt, um eins bekommt sie Medikamente, die die Geburt einleiten. Dann sind sie allein in einem kleinen Zimmer. Der Mann, Jutta Gelhaus und ihr sterbendes Kind. Um zehn Uhr abends setzen die Wehen ein. Niemand kommt, keine Hebamme, kein Arzt. Eine Schwester bringt Schmerzmittel. Das ist alles. Um 2.15 Uhr wird die tote Lea geboren. Sie wiegt 183 Gramm und ist knapp 20 cm groß. Die Mutter will Lea in den Händen halten. Aber sie muss in den OP, die Nachgeburt soll ausgeschabt werden. Das ist Krankenhausroutine. Der Termin, jetzt. Vollnarkose. Als Gelhaus daraus erwacht, befindet eine Schwester, der Fötus müsse nun in die Pathologie. Als Gelhaus protestieren will, muss sie sich erbrechen. Und dann ist Lea weg.

Jetzt ist das Problem für die Medizin zu Ende. Aber für die verwaisten Eltern fängt es erst an. "Ich habe weiter getrunken. Ich wusste nicht, wie ich den Schmerz, die Leere und die Schuldgefühle betäuben soll." Nach einer Abtreibung gibt es keinen Mutterschutz. Sie muss wieder arbeiten. Sie findet den Verein Schmetterlingskinder, der sich darum kümmert, dass Kinder unter 500 Gramm überhaupt begraben werden können. Und stößt im Internet schließlich auf ein Forum: nachabtreibung.de. Da liegt ihr Schlüssel. Da sind die anderen Mütter, die wie sie fast umkommen vor Schuld und Scham. Die wie sie merken, dass keiner im Umfeld mit ihrer Trauer umgehen kann. Wer abtreibt, der wollte es doch so. Warum sollte man da trauern? Sie kann mit den Menschen im Forum trauern, kann auf den Friedhof gehen. Sie bekommt sich selbst wieder unter Kontrolle, ist wieder arbeitsfähig.

Der Bundestag diskutiert, ob die Beratung für Menschen wie Jutta Gelhaus so oder so aussehen soll. Er debattiert nicht, dass diese Gesellschaft Behinderung als Schaden ansieht und Mütter von behinderten Kindern als verantwortungslos. Und er debattiert auch nicht, wie Eltern sich in Würde von Kindern wie Lea verabschieden können.

*Name von der Redaktion geändert

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