Traumatisierte Topmanager

Die Schweizer Polizei hat am Mittwoch aus einem Geschäft in Davos eine Tibet-Flagge entfernen lassen, weil der chinesische Premierminister Wen Jiabao den Weltwirtschaftsgipfel besuchte.

Die Geschäftsführerin eines Geschenkeladens sei vor Öffnung ihres Geschäfts von der Polizei aufgefordert worden, Schriften des Dalai Lama, tibetische Gebetsbücher und die Flagge aus dem Schaufenster zu entfernen.

Wäre sie der Aufforderung nicht nachgekommen, hätte die Polizei die Gegenstände beschlagnahmt, hieß es.

AUS DAVOS HANNES KOCH

Es kommt selten vor, dass Journalisten bei Pressekonferenzen der Kragen platzt. Bei der Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos ist es passiert. „Verdammt“, herrschte die BBC-Korrespondentin die sechs Vorsitzenden der Konferenz an, unter ihnen Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan, „müssen wir jetzt drei Tage intellektuell daherreden? Wir brauchen praktische Lösungen für die Finanzkrise.“

Dieser kleine Vorfall wirf ein Schlaglicht auf das gesamte Forum, die 39. Ausgabe des informellen Weltgipfels der Elite aus Wirtschaft und Politik, angetreten unter dem Motto „Die Welt nach der Krise gestalten“. Die Vorschläge zur Bewältigung der Misere bleiben merkwürdig blass. Organisator Klaus Schwab will der Veranstaltung einen Sinn geben, doch fallen ihm nur wohlklingende Vokabeln ein: Die 2.500 teilnehmenden Führungskräfte sollten einen „ganzheitlichen Ansatz“ wählen, ohne eines der 36 Weltrisiken wie Klimawandel und Terror außer Acht zu lassen. Er fordert, die „wirkliche Kooperation aller Stakeholder“ anzustreben und die „Weltwirtschaft wiederaufzubauen“.

In seiner angelsächsischen Art, nüchtern und zupackend, erklärt dagegen Medienunternehmer Rupert Murdoch, warum man noch nicht in die schöne heile Welt aufbrechen könne: „Die Leute sind traumatisiert.“ Und die Krise werde bald noch schlimmer, „die Werte verfallen weiter“.

Alles andere als unsicher scheinen die Gegner des Weltwirtschaftsforums. Tusch! Durch den großen Saal des rustikalen Hotels Montana dröhnt die Titelmusik des neuesten James-Bond-Films, „Ein Quantum Trost“. Schauspieler Anatole Taubman, der im Film einen bösen Bond-Gegner spielt, posiert im Business-Outfit und macht Witze über seine schwarze Trauerkrawatte. Genüsslich zelebriert er die Verleihung der Schmähpreise an die miesesten Unternehmen der Welt. Vielversprechende Kandidatin für die diesjährige Auszeichnung der Globalisierungskritiker ist die Schweizer Bank UBS. Sie gilt als unsozialster und umweltfeindlichster Konzern der Welt. Letztlich kommt dann aber doch der US-Bergbaukonzern Newmont Mining Corporation auf den ersten Platz.

Dem Verdacht, sich über die Krise zu freuen, widersprechen die Kritiker. „Das wäre zynisch“, sagt Oliver Classen, Sprecher der Erklärung von Bern. Die Organisation vergibt die Negativpreise. Über die gute Stimmung im Saal angesichts der Probleme der einige hundert Meter entfernt tagenden Manager kann Classens Bemerkung freilich nicht hinwegtäuschen.

Von Ratlosigkeit ist der Vortrag des Hauptredners nicht getrübt. Der frühere CDU-Generalsekretär und jetzige Globalisierungskritiker Heiner Geißler erscheint zwar grau und gebeugt, aber dennoch aggressiv. „Die Gier nach Geld zerfraß die Hirne dieser Menschen“, die durch ihren Handel mit risikoreichen Finanzprodukten die augenblickliche Krise herbeigeführt hätten. „Das ganze System ist von der Wurzel her verdorben“, sagt Geißler, „es hat sich erledigt.“ Geld gebe es „wie Dreck auf der Welt“, man müsse es nur richtig verteilen.

Wie anders klingen dagegen die tastenden Versuche der Wirtschaftselite, neue Antworten auf neue Fragen zu finden. Vor allem ein schwerwiegendes Problem treibt die Vorstandsmitglieder vieler Unternehmen um: Wie kann, soll, muss die neue politische Regulierung aussehen, die angesichts der Krise nun unausweichlich erscheint?

Einen „Mangel an Kooperation“ diagnostiziert Ferit Sahenk, Chef der Dogus-Gruppe, eines großen türkischen Unternehmensverbundes. Um Abhilfe zu schaffen, fordert er „mehr Multilateralismus“, also Zusammenarbeit zwischen Staaten und Institutionen, damit die Weltwirtschaft einen stabilen Rahmen erhält. „Und wie bitte soll dieser Multilateralismus aussehen?“, fragt Stephen Roach, Asienchef der in der Krise gestrauchelten früheren Investmentbank Morgan Stanley. „Wir brauchen einen Hund, der beißt und nicht nur bellt“, verlangt Roach, weil es bislang an Institutionen fehlt, die eine gemeinsame Aufsicht über die Finanzmärkte ausüben könnten. „Haben Sie denn diesen Hund schon mal getroffen?“, hakt Michael Elliott nach, Moderator der Veranstaltung und Herausgeber des Time Magazine. Antwort des Morgan-Stanley-Managers: „Nein, nirgendwo.“ Darauf Elliotts Schlusswort: „Diese Session war nicht lustig. Trotzdem, Folks, habt ein schönes Davos.“

Dazu wollen die Globalisierungskritiker gerne beitragen. Am zweiten Tag des Forums starteten sie eine der raren Protestaktionen, denn die Polizei- und Armeepräsenz ist gewaltig. Von einer Brücke seilten sich Aktivisten ab und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Mr. Obama, regulieren Sie die Konzerne!“. Die Polizei sperrte die Straße, und die endlose Karawane schwarzer Limousinen kam für einige Zeit zum Stehen. Aber schnell fand die Polizei eine Umleitung. Viel genützt hat das alles nicht. Gleichwohl war die Aktion immerhin ein Achtungserfolg. Im kleinen Kosmos Davos sind die Kritiker ähnlich hilf- und machtlos wie die Manager in der großen, weiten Welt der Wirtschaft.

Manche der früher erfolgsverwöhnten Wirtschaftsgrößen trifft es in Davos ziemlich hart. Morgan-Stanley-Mann Stephen Roach musste sich in einem Seminar über die Ursachen der Finanzkrise und den aus heutiger Sicht abenteuerlichen Handel mit undurchschaubaren Finanzprodukten fragen lassen: „Warum wart ihr Banker eigentlich so dumm?“ Roach pariert den Angriff zwar mit der Gegenfrage: „Warum waren die Aufsichtsbehörden, die Politiker, die Käufer der Produkte, ihr alle, so dumm?“ Trotzdem muss man solche Situationen als eine Art öffentlicher Sühne verstehen.

Die Bankchefs wissen nicht weiter. Ihre Institute stehen vielfach am Abgrund. Es bleibt ihnen nichts übrig, als die verhasste Intervention des Staates dankbar anzunehmen. Einen Augenblick sind sie bereit, das zu akzeptieren. Im nächsten besinnen sie sich wieder und schieben ein Aber hinterher: Der Staat möge sich so bald wie möglich zurückziehen. „Denn die Wirtschaft des offenen Marktes“, sagt Stephen Green, Vorstand der britischen Bank HSBC, „ist doch immer noch die beste Lösung.“