Lateinamerika bleibt links: Die rosarote Welle schwappt weiter

Die Wahlsiege der Linken in Lateinamerika haben überall die gleichen Wurzeln: den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und nach mehr politischer Partizipation.

Zwei Protagonisten der rosaroten Welle: Boliviens Evo Morales und Lula da Silva aus Brasilien. Bild: dpa

PORTO ALEGRE taz Wie sich die Zeiten gewandelt haben! Vor zehn Jahren noch hätte ein Wahlsieg der salvadorianischen Linken in ganz Lateinamerika als Sensation gegolten. Gewiss, in Venezuela war gerade Hugo Chávez zum ersten Mal als Präsident vereidigt worden, doch der Oligarchie galt der linke Mestize und frühere Fallschirmjäger als Exot ohne Massenbasis, den sie rasch in ihr jahrhundertelang gewachsenes Herrschaftssystem einbinden würde. Es kam anders.

Bolivien: Seit 2006 Evo Morales

Brasilien: Seit Januar 2003 Lula da Silva

Chile: Seit März 2006 Michelle Bachelet

Ecuador: Seit Januar 2007 Rafael Correa

El Salvador: Ab 1. Juni 2009 Mauricio Funes

Kuba: Fidel Castro seit 1959, Bruder Raúl seit August 2006

Nicaragua: Seit Januar 2007 erneut Daniel Ortega, FSLN

Paraguay: Seit August 2008 Fernando Lugo

Uruguay: Seit März 2005 Tabaré Vazquez

Venezuela: Seit 1999 Hugo Chávez, Ende nicht abzusehen

Ein bisschen links:

Argentinien: Seit Dezember 2007 Cristina Kirchner

Guatemala: Seit Januar 2008 Alvaro Colóm

Honduras: Seit Januar 2006 Manuel Zelaya

Inzwischen sind südlich des Rio Grande Staatschefs mit unorthodoxem Lebenslauf und links geführte Regierungen schon fast Routine geworden. In Brasilien siegte der Exmetaller Luiz Inácio Lula da Silva gleich zwei Mal mit satter Mehrheit. In Bolivien regiert der Indigene Evo Morales, in Paraguay der Befreiungstheologe Fernando Lugo. Ecuadors "Bürgerrevolution" dürfte Ende April an den Urnen bestätigt werden, ebenso ein halbes Jahr später Uruguays Linksallianz "Breite Front" und im Dezember Evo Morales. Die oft als Linksruck apostrophierten Wahlsiege seit 1998 haben zwei gemeinsame Wurzeln: die Unzufriedenheit über die sozialen Verwerfungen, die sich durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte noch zugespitzt hatten. Und den Wunsch nach mehr demokratischer Teilhabe in Ländern, die bis in die 1980er-Jahre hinein fast alle unter langjährigen Militärdiktaturen zu leiden hatten.

Trotz geballter Medienmacht des Establishments trauen immer mehr LateinamerikanerInnen der Linken zu, besser für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie sorgen zu können als die Rechte. Von einem Sieg der Hoffnung über die Angst sprach Mauricio Funes in der Wahlnacht - zu Recht. Und dass solche "historischen" Wahlsiege wiederholbar sind, hat sich bereits in Venezuela und Brasilien gezeigt. Die fortschrittlichen Regierungen setzen nämlich allesamt auf eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft - und das nicht erst seit der Weltfinanzkrise. Beschwingt vom Rohstoffboom der letzten Jahre, hat sich Argentinien unter den Kirchners ebenso wie Brasilien unter Lula von den Vorgaben der Weltbank oder des IWF mehr denn je emanzipiert.

"Nationalisierung" lautet die Devise in Bolivien oder Venezuela. Gemeint ist damit die eigenständige Formulierung der Rahmenbedingungen, denen sich auch ausländische Firmen zu unterwerfen haben. Selbst im postkolonialen Zeitalter sind solche Schritte für Länder des Südens alles andere als selbstverständlich. Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre haben sämtliche Linksregierungen für die Ausweitung von Sozialprogrammen genutzt. Brasilien etwa steckt dieses Jahr 4,4 Milliarden Euro in das Familienstipendium "Bolsa-Familia" - über 11 Millionen arme Familien erhalten gegen den Nachweis von Impfungen und Schulbesuch einen monatlichen Zuschuss von durchschnittlich 29 Euro. Entsprechend hat sich überall die absolute Armut verringert. 2007 gab es "nur" noch 184 Millionen arme LateinamerikanerInnen, 38 Millionen weniger als fünf Jahre zuvor, ermittelte die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik. Tief wie eh und je scheint allerdings die Kluft zwischen Arm und Reich.

Eine gute Gesundheitsversorgung oder Schulbildung und somit die Chance auf einen dauerhaften sozialen Aufstieg bleibt nach wie vor den Besserverdienenden vorbehalten. Solche jahrhundertelang gewachsenen Strukturen sind nicht über Nacht über den Haufen zu werfen. Selbst in Venezuela, Bolivien und Ecuador, wo nach dem Zusammenbruch der alten Parteiensysteme linke Verfassungen in Kraft sind, bleiben Kapitalismus und Konsumdenken tief verwurzelt, Landreformen schwierig und die koloniale Rolle als Rohstoffexporteure erhalten. Immerhin ist in den Verfassungen Boliviens und Ecuadors bereits die Vision einer postindustriellen, ökologisch ausgerichteten Gesellschaft formuliert.

Ein schwieriges Unterfangen bleibt die Demokratisierung nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik: Lula oder Fernando Lugo in Paraguay regieren ohne linke Mehrheiten im Parlament. Justiz und Medien sind fast überall in den Händen der traditionellen Oberschichten. Korruption und Straflosigkeit sind heute viel sichtbarer als zur Zeit der Militärregime, aber nach wie vor unterlaufen sie den sozialen Fortschritt. Am extremsten zeigt sich das Beharrungsvermögen der Rechten ausgerechnet in Nicaragua, wo sie eine informelle Allianz mit dem "linken" Staatschef Daniel Ortega eingegangen ist. Ebenso wenig wie El Salvador durchlebt Lateinamerika einen "Linksruck". Doch aus historischer Perspektive ist schon die derzeitige rosarote Welle ein großer Fortschritt - im internationalen Vergleich erst recht.

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