Taiwans abgestürzter Hoffnungsträger

Chen Shui-bian, der im Jahr 2000 als große Hoffnung der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei Präsident der Insel Taiwan wurde, steht seit Donnerstag in Taipei wegen Korruption vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, in seiner Amtszeit von 2000 bis 2008 Bestechungsgelder von umgerechnet rund 2,28 Millionen Euro im Zusammenhang mit einem Bauprojekt erhalten zu haben. Chen bestreitet dies und bezeichnet das Verfahren als politisch motiviert.

Überraschend kommt das unrühmliche Finale von Chens politischer Karriere nicht: Schon während seiner Regierungszeit, die im Mai 2008 endete, kamen Freunde und Familienangehörige vor Gericht. Sein Schwiegersohn wurde wegen Insider-Aktiengeschäfte zu sieben Jahren Haft verurteilt, gegen seine Frau wird wegen Korruption und Unterschlagung von Staatsgeldern ermittelt. Viele seiner politischen Freunde wandten sich in den letzten Jahren enttäuscht von ihm ab.

Nur ein harter Kern von Anhängern glaubt seinen Versicherungen noch, dass die Korruptionsvorwürfe erfunden sind und Chen in Wahrheit Opfer politischer Machenschaften seines Nachfolgers, Präsident Ma Ying-jeou, ist: „Weil Ma Chinas Kommunisten besänftigen will, arbeitet er mit ihnen zusammen, um mich ins Gefängnis zu werfen“, erklärte Chen im November.

Als Rechtsanwalt hatte er sich in den 80er-Jahren für Dissidenten eingesetzt, die unter dem Regime der Nationalpartei Kuomintang verfolgt wurden. Nachdem Taipei 1987 das Militärrecht aufhob und erstmals Oppositionsparteien zuließ, gehörte der charismatische Redner zu jenen, die sich für eine eigenständige taiwanische Politik und Kultur starkmachten. Eine politische Vereinigung mit dem Festland lehnte er stets ab. Chen wurde zunächst Bürgermeister der Hauptstadt Taipei und dann – zum großen Ärger Pekings – im Frühjahr 2000 an die Spitze des Staates gewählt.

Während seiner Amtszeit verwandelte sich Taiwan in eine oft chaotische, aber friedlich funktionierende Demokratie. Chen versuchte immer wieder, Taiwans Eigenständigkeit zu stärken, ohne formal die Unabhängigkeit zu erklären. Doch der Streit über das Verhältnis zum Festland überschattete immer mehr die Freude über die neuen bürgerlichen Freiheiten und polarisierte die 23 Millionen Bewohner. Auch der stärkste Verbündeten, die USA, waren über den erratischen Chen verärgert.

Viele Taiwaner warfen Chen vor, der Insel zu schaden, weil er Peking zu stark provozierte. Nachfolger Ma, der zur alten Kuomintang-Partei gehört, siegte im Mai nicht zuletzt wegen des Versprechens, enger mit China zu kooperieren. JUTTA LIETSCH