L’Aquila, 3.32 Uhr

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Etwa 100 Tote, zahlreiche unter den Trümmern vermutete Vermisste, zehntausende Obdachlose: Ein schwerer Erdstoß erschütterte in der Nacht von Sonntag auf Montag die mittelitalienische Region Abruzzen. Das Beben von etwa 39 Sekunden Dauer und einer Stärke von 5,8 auf der Richter-Skala ereignete sich um 3.32 Uhr; sein Epizentrum lag unweit der Regionshauptstadt L’Aquila, 90 Kilometer nordöstlich von Rom.

Auch dort war das Beben noch deutlich zu spüren: In den östlichsten Stadtvierteln Roms flüchteten hunderte Menschen auf die Straßen. In der 70.000-Einwohner-Stadt L’Aquila stürzten zahlreiche Gebäude ein, darunter das „Duca degli Abruzzi“, eines der bekanntesten Hotels der Stadt, ebenso wie ein Studentenwohnheim und die Präfektur. Auch die örtliche Universitätsklinik wurde schwer beschädigt; sie musste wegen Einsturzgefahr teilweise evakuiert werden, und nur zwei Operationssäle konnten genutzt werden. Die Kuppel einer Kirche stürzte ein, und die Kathedrale wurde beschädigt. Wohl noch stärker als L’Aquila wurden aber zahlreiche Bergdörfer im Umland getroffen. So wurde aus dem Ort Onna gemeldet, die Hälfte der Häuser sei eingestürzt – acht Tote und dreißig Vermisste waren zu beklagen. Aus dem Dorf Castelnuovo wurden fünf Tote gemeldet, unter ihnen vier Kinder, die unter den Trümmern ihres Hauses begraben wurden.

Auch in L’Aquila selbst waren nur wenige Stunden nach dem Unglück schon am Vormittag sechzehn Tote geborgen; insgesamt wurden bis zum Mittag fünfzig Todesopfer gezählt. Die Behörden befürchten jedoch, dass die Zahl noch deutlich steigen wird, da eine noch ungewisse Zahl von Personen unter den Trümmern verschüttet ist. Währenddessen sind bisher 1.500 Verletzte versorgt worden. Angesichts der schweren Schäden an der Universitätsklinik mussten sie zunächst unter freiem Himmel behandelt werden, während die Schwerverletzten mit Hubschraubern in andere Regionen ausgeflogen wurden.

Ministerpräsident Silvio Berlusconi sagte seine für Montag geplante Russlandreise ab und rief den Notstand für die Region aus. Guido Bertolaso, der Chef des Zivilschutzes, sprach von der „größten Katastrophe dieses Jahrhunderts“ für Italien. Aus dem ganzen Land wurden Feuerwehr-, Zivilschutz- und Armeeeinheiten in die Abruzzen dirigiert; bis Montagabend sollten zwei Feldlazarette errichtet werden. In großen Teilen L’Aquilas waren zunächst Strom-, Gas- und Wasserversorgung unterbrochen. Zudem geht der Zivilschutz davon aus, dass etwa 10.000 bis 15.000 Gebäude in dem Erdbebengebiet aufgrund der Schäden unbewohnbar sind. Deshalb wurde sofort mit der Errichtung von Zeltstädten begonnen; zahlreiche Hotels in der Region wurden requiriert, um den auf 70.000 geschätzten Obdachlosen Unterkunft zu verschaffen.

Am Vormittag irrten hunderte Personen unter Schock, teilweise nur im Pyjama, mit einer Decke über dem Rücken, durch die Straßen der Stadt. Schon in der kommenden Nacht, so ein Vertreter des Zivilschutzes am Montag, solle jedoch jeder ein provisorisches Dach über dem Kopf haben. Zahlreiche Menschen flüchteten zudem aus Furcht vor Nachbeben aus der Stadt und suchten bei Verwandten Unterschlupf.

Schon seit Mitte Januar wurde die Region immer wieder von schwächeren Beben getroffen. Vor diesem Hintergrund hatte der Wissenschaftler Giampaolo Giuliani, der in dem unterirdischen Atomphysiklabor unter dem Bergmassiv des Gran Sasso in den Abruzzen arbeitet, vor wenigen Tagen ein „verheerendes Beben“ für die Abruzzen angekündigt, hatte als Termin jedoch die letzten Märztage angegeben. Seine Aussage stützte er auf Gasmessungen im Gestein. Diese Vorhersage handelte ihm ein Ermittlungsverfahren wegen „Verbreitung von Panik“ ein. Auch jetzt erklärte das Nationale Institut für Geophysik und Vulkanologie, Erdbeben seien mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht präzise vorhersehbar.