Zuversicht und unangenehme Wahrheiten

WASHINGTON taz | Sie sind eine willkürlich angelegte, doch unvermeidliche Messlatte: die ersten 100 Tage des neuen US-Präsidenten Barack Obama. Obgleich die Wirtschaftsdaten nach wie vor düster sind, legen Umfrageergebnisse nahe, dass sich in den USA langsam wieder Optimismus breitmacht. Die Geldmengen, die Obama mit seinem Konjunkturpaket für die US-Wirtschaft bereitgestellt hat, haben ihm die Chance eröffnet, tief verwurzelte Probleme in den Städten und Regionen seines Landes anzusprechen. Obama nutzt die Krise, um den Bürgern unangenehme Wahrheiten zu offenbaren. Und er hat neben der Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise auch Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen und den Umbau der US-Energieversorgung versprochen.

Kaum ein US-Präsident vor Obama hatte in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit so viele Probleme gleichzeitig zu bewältigen: eine starke Rezession, massenhafte Zwangsversteigerungen überschuldeter Immobilien; rasant zunehmende Arbeitslosigkeit. Dazu noch die Kriege in Afghanistan und im Irak, die Herausforderung des Klimawandels und 45 Millionen US-Bürger ohne Versicherung.

Die Republikaner sind sich dabei trotz der vielen Probleme für keinen Boykott gegen Obama zu schade. Obama, der mit der Mission angetreten war, den parteipolitischen Graben in Washington zu überwinden, ist in dieser Sache gescheitert. Zu den wichtigsten Abstimmungen im Kongress bekam er regelmäßig keine einzige Stimme der Republikaner, obwohl er Konservative mit Einladungen ins Weiße Haus und Kompromisslösungen hofiert hatte. Die Republikaner betreiben weiterhin ihre demagogische Politik. So wie die Republikanerin Michele Bachmann, die allen Ernstes einen Zusammenhang zwischen Demokratenherrschaft und Schweinegrippe erkennen wollte.

Es ist fast ein Geschenk, dass ausgerechnet zum Ablauf der 100-Tage-Frist, an der Schallmauer quasi, der republikanische Senator Arlen Specter aus Pennsylvania bekannt gab, zu den Demokraten wechseln zu wollen. Das bringt die Demokraten im Senat der ersehnten 60-Stimmen-Mehrheit nahe, die sie brauchen, um Gesetzesblockaden seitens der Opposition zu verhindern.

Obama, so hoffen die Demokraten, hat mit seiner mutigen Konjunkturpolitik nun die einmalige Chance, in den eher konservativen USA eine Übereinkunft zu schaffen, der Bundesregierung eine aktivere und damit effektivere Rolle zuzubilligen, als es in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Gelingt es Obama, das ökonomische Abrutschen der Mittelklasse zu verhindern, könnte er für seine Partei und deren Sozialprogramme auf Jahre hinaus eine stabile Mehrheit schaffen. Misslingt das Experiment, für das es nur Vorlagen aus der Zeit der großen Depression gibt, hinterlässt Obama geplünderte Kassen und eine Wählerschaft, die Washington mit noch größerem Misstrauen begegnen würde als bisher. AW