Abschiebung im Abseits

PROTEST Demonstrantinnen fordern in Berlin ein Ende der Abschiebepraxis – doch in der Krise finden sie kaum Gehör

VON SEBASTIAN KEMPKENS
UND JONAS SCHAIBLE

Jens-Uwe Thomas rückt seine Kappe zurecht, die Sonne blendet. „Abschottung ist zu einem europäischen Projekt geworden“, sagt der Sprecher des Flüchtlingsrats Berlin. „Auch Deutschland bauen wir zur Festung um. Hier haben wir ein Abschiebegefängnis direkt vor der Haustür“.

Grünau, Samstag, 15 Uhr: Neben dem 45-Jährigen demonstrieren etwa 130 Menschen gegen Abschiebung und für die Schließung des Grünauer Abschiebeknasts. Dort sitzen durchschnittlich 70 bis 90 Inhaftierte ein, Tendenz sinkend. Denn immer weniger schaffen es ins gelobte Land „Europa“.

Zur Demo wurden 500 Teilnehmerinnen erwartet, noch nicht einmal die Hälfte ist gekommen. Massen bewegt das Problem nicht. Weil die Finanzkrise Deutschland beschäftigt, finden andere Themen kaum Beachtung. „Die Abschiebeproblematik war schon immer schwer in die Politik zu bringen; die Krise macht das noch schwieriger“, sagt Evrim Baba. Die 38-jährige Kurdin ist Mitglied der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und hat den Protestzug angemeldet. Sie selbst ist im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie aus der Türkei geflüchtet.

Etwa 85 Prozent aller Asylanträge werden hierzulande abgelehnt. Jährlich schiebt die Bundesrepublik etwa 30.000 Ausländerinnen ab. Die Hiergebliebenen treibt es oft in die Illegalität: „Diese Menschen müssen schwarzarbeiten, um sich über Wasser zu halten“, erklärt Baba. Flüchtlinge treffe die Krise schneller als andere, ihnen werde leichter gekündigt.

Hilflosigkeit oder Kalkül?

„Deutschland selektiert: Humanitäre Härtefälle werden nur auf Leistungsfähigkeit geprüft“, sagt Jens-Uwe Thomas. Der Politikwissenschaftler ist ein besonnener Mensch. Eigentlich. Doch geht es um das Abschiebegefängnis, wird er energischer. Es müsse erst etwas anbrennen, sagt er, sonst gehe es nicht voran. So wie 2003, als über 60 Häftlinge in den Hungerstreik traten. Oder 2008, als sich ein Tunesier im Grünauer Abschiebegewahrsam umbrachte. „Seitdem hat sich zumindest etwas an den Haftbedingungen geändert“, sagt Thomas.

Dennoch: Ob aus Hilflosigkeit oder Kalkül, Europa bekämpft nur Symptome. Statt strukturelle Lösungsansätze zu schaffen, werden Mauern erhöht, Überwachungssysteme perfektioniert. 2004 beauftragte die EU die Agentur Frontex unter anderem mit dem Schutz ihrer Außengrenzen und der Rückführung illegaler Einwanderinnen. Seitdem gibt es Patrouillenschiffe von Frontex vor den Küsten, auch die Abschiebung der vorige Woche aus Berlin ausgeflogenen 104 Vietnamesinnen finanzierte die Grenzschutzagentur.

Weitere Neuerung: das Zuständigkeitsrecht „Dublin II“. Nach der „Erststaatenregelung“ werden Flüchtlinge in den EU-Staat zurückgeführt, in dem sie zuerst ihren Asylantrag gestellt haben. Kommt etwa eine Tschetschenin über Polen nach Deutschland, bearbeiten die Behörden den Fall gar nicht erst, Polen ist als „Erststaat“ zuständig: Der Flüchtling muss zurück. In vielen Staaten aber fehlt es an Strukturen für Flüchtlingsbetreuung. „Seit Frontex und Dublin II nimmt Deutschland immer weniger Menschen auf. Gleichzeitig sollen Abschiebegefängnisse abschrecken“, sagt Thomas.

Umsetzbare Vorschläge für Verbesserungen sucht man jedoch auch auf der Demo vergeblich. Nur in einem Punkt sind alle einig: So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Denn verdrängen sollte man diese Krise nicht.