Erzieher der Deutschen

VON ANTONIA GRUNENBERG

Wie sehr Jürgen Habermas ein Mann seiner Zeit ist, wird erst aus dem Abstand der Jahrzehnte erkennbar. Beansprucht sein Denkansatz auch fraglose Überzeitlichkeit, ihr Schöpfer war und ist tief geprägt von den Erfahrungen seiner Jugendzeit. Die Frage ist, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Als Jürgen Habermas auf der Delegiertenkonferenz des SDS in Hannover 1967 den Vorwurf erhob, diese Bewegung stehe in der Gefahr des „Linksfaschismus“, waren viele seiner ZuhörerInnen empört. Habermas konnte freilich die Eigenart dieser Bewegung nur nach Maßgabe der dichotomischen Denkmuster seiner Zeit verstehen.

Damit stand er nicht allein. In den Sechzigerjahren dachten und handelten kluge Leute, die Ende der Zwanzigerjahre geboren waren und denen der Nationalsozialismus zum Trauma ihrer jungen Jahre geworden war. Etlichen erschienen die Studenten, Schüler und freischwebenden Intellektuellen, die aggressiv und lautstark die Autoritätsverhältnisse und die Legitimation staatlicher Instanzen infrage stellten, als Wiedergänger der Katastrophe. Der geschichtliche Zufall wollte es, dass der lebensgeschichtlich adaptierte Antinationalsozialismus der Vorkriegsgeneration mit dem leidenschaftlichen, nach außen gewendeten Antifaschismus der Nachgeborenen unversöhnlich zusammenprallte.

Bei vielen Gelegenheiten hat Habermas vor studentischer Öffentlichkeit fast predigtartig die Wichtigkeit stabiler Institutionen für die westdeutsche Demokratie hervorgehoben. Immer wieder bekamen die Studenten zu hören, ihre radikale Kritik der Institutionen führe ins Verderben. Der damalige Konsens in den bundesrepublikanischen Eliten, deren einer Wortführer Habermas war und ist, besagte: Die Weimarer Republik war an der Instabilität ihrer Institutionen zugrunde gegangen. Das einzige Heilmittel bestünde darin, so eben auch Habermas, starke Institutionen aufzubauen.

Auf der Kehrseite der Medaille zeigte sich ein merkwürdiges Bild: Als Wiedergänger der kryptofaschistisch geprägten Vorkriegswelt erschienen dort die gepeinigten, unterdrückten Gesellschaften Mittel- und Osteuropas. Für wen die Teilung Europas freilich ein unhinterfragbares moralisches Diktum der Weltgesellschaft über den deutschen Mord an den europäischen Juden war, den musste nicht interessieren, dass halb Europa davon in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Es ist Habermas’ Verdienst, die westdeutsche Intelligenz mit dem westlichen pragmatischen Denken und der dazugehörigen Lebensart versöhnt zu haben. Der zerstörerischen Wirkung des Nationalsozialismus setzte er das eherne Modell eines nicht aufkündbaren, rechts- und normgestützten Diskurses entgegen. Für die Deutschen war es ein erzieherisches Modell, das den Zeitläuften trotzen sollte.

Der intellektuelle Preis, den ein solches Denken zu entrichten hat, ist freilich nicht gering. Man darf sich fragen, ob nicht ein Denken wie das von Jürgen Habermas die Geschichtlichkeit des Denkens wegblenden muss, um die Zeitläufte bannen zu können. Man mag auch annehmen, dass der Kairos der Freiheit, wie er 1989 ins Geschehen einbrach, in einem derartigen Modell eher störend wirkt, solange er nicht in den Diskurs „nachholend“ integriert wird.

ANTONIA GRUNENBERG, 65, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg