Zu Tisch in der Provence

VON SASKIA SASSEN

Ich hatte schon viel davon gehört, hatte aber selbst noch nie wirklich die Erfahrung gemacht, in ein Gespräch mit Jürgen Habermas vertieft zu sein. Mit Ute Habermas und meinem Mann Richard Sennett hatten wir uns gegen Mittag vor deren Haus in der Provence zu Tisch gesetzt. Wir saßen auf einer Terrasse unter einem gewaltigen alten Baum mit einem Blick auf die umliegenden Hügel und Felder. Irgendwann fragte mich Habermas etwas über meine Arbeit. Noch war mir nicht bewusst, was folgen würde. Der Ausdruck der „gründlichen Nachfrage“ schafft es nicht ganz, dieses intensive und ununterbrochene Hin und Her zu beschreiben. Gegen drei Uhr nachmittags hatten wir Ute und Richard verloren – an ein Mittagsschläfchen, ich glaube, eine vernünftige Wahl nach den großen Mengen Wein und Essen. Und gegen fünf Uhr, mit der Mittsommersonne, die inzwischen direkt auf uns schien, redeten wir immer noch. Es war con-versere in seiner ganzen wörtlichen lateinischen Bedeutung.

Für mich war es eine magische Erfahrung. Wir Gelehrte haben große Freude an einem guten Gespräch – fokussiert, konzentriert, anhaltend, fortschreitend … ein Erlebnis des éclaircissement, der Aufklärung, ja, der Erleuchtung. Aber das hier war anders. Eine lang anhaltende Konversation mit Jürgen Habermas zu haben, ist eine Mischung aus all dem sowie dem Gespräch als Gefecht mit der großen Wahrscheinlichkeit, eines Fehlers überführt zu werden; eine Erfahrung, die an Schrecken grenzen kann, von lautem Lachen begleitet wird und die gemeinsame Erkenntnis merkwürdig beflügelt. Dann gibt es da noch die Spiralen, mehrfache Rückschritte, Weiterentwicklungen, aber es ist immer Bewegung. Nicht so sehr éclaircissement als theoria, sondern ein Sehen, was man nicht mit dem Auge sehen kann.

SASKIA SASSEN, 60, ist Professorin der Soziologie an der University of Chicago und an der London School of Economics sowie Mitglied im Club of Rome