Zu Hause im Teilzeitgefängnis

Werner Fink steht bereits mit einem Fuß im Gefängnis. Der andere steckt in einer elektronischen Fessel

Eine schwarze Box in seinem Schlafzimmer schlägt sofort Alarm, wenn sich Fink nicht an den Plan hält

AUS OFFENBACH KRISTIN OEING

Daniels* Vater ist gerade erst aus der Kur zurückgekommen. Nun muss er an seinem Unterschenkel ein Gerät tragen, das Strahlen aussendet, um seinen verletzten Fuß zu heilen. Das braucht Zeit. Wochen, vielleicht sogar Monate. Berühren darf Daniel das schwarze Plastikgerät nicht – wegen der Strahlen. „Die sind nur für Papa gut“, sagt der Sechsjährige ernst. Werner Fink* streicht seinem Sohn zärtlich über den dunklen Haarschopf.

„Wie erklärt man einem Kind, dass der eigene Vater im Gefängnis sitzt?“, fragt Werner Fink wenig später kopfschüttelnd. Die Geschichte von der Kuranstalt und dem Strahlengerät hat sich der Offenbacher ausgedacht, um seinen Sohn vor der harten Realität zu schützen. Zu oft schon hat sein Sohn seinetwegen geweint. Zu oft hat Daniel ihn nur alle vierzehn Tage für ein paar Stunden sehen dürfen. Dass sein Vater kurz davor steht, erneut hinter Gittern zu landen, weiß der Junge nicht.

Werner Fink gehört zu den derzeit 75 Fußgefesselten in Deutschland. Seit neun Jahren geben Gerichte in Hessen verurteilten Straftätern eine letzte Bewährungschance. Wer im Fußfesselprojekt scheitert, wandert hinter Gitter. „Aber wer zuverlässig ist, gut mitarbeitet und in einem stabilen, sozialen Umfeld lebt, hat gute Chancen, dem Knast zu entgehen“, sagt Bewährungshelfer Hans-Dieter Amthor, der seit dem Beginn des deutschlandweit einmaligen Projekts dabei ist.

Die Idee zur Fußfessel stammt aus den Vereinigten Staaten. Überfüllte Gefängnisse und leere Kassen haben sie über den Großen Teich zunächst nach Großbritannien und dann auch in andere europäische Staaten gebracht. „Die Kostenersparnis ist enorm“, sagt der 54-Jährige. Ein Häftling koste den Staat etwa 95 Euro am Tag, „der Nettopreis für die Fußfessel liegt bei 2.900 Euro“. Bereits nach einem Monat rentiere sie sich. „Die Fußfessel ist das letzte Mittel vor dem Freiheitsentzug, aber in Deutschland keine Alternative zum Knast“, erklärt Amthor weiter. Wer wie Werner Fink nur die Untersuchungshaft aussetzt, muss wie jeder andere Angeklagte mit einer Gefängnisstrafe rechnen.

Ständige Erinnerung

Der Gedanke ans Gefängnis macht Werner Fink nervös. Sechs Jahre verbrachte der kräftig gebaute Mann mit der hohen Stirn, auf der sich einige Narben tief in die Haut gegraben haben, bereits hinter Gittern. Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz haben ihn dorthin gebracht. Mit Schrecken erinnert sich Fink zurück. Die Sehnsucht nach seiner Familie, die Einsamkeit, die Selbstvorwürfe. Während er redet, fasst sich Fink immer wieder an seinen linken Knöchel, reibt mit den Fingern über seine Jeans. Unter der Hose versteckt sich die kleine, schwarze Plastikschnalle, die er seit sechs Monaten ununterbrochen trägt. Sie erinnert ihn an seinen letzten Fehler. Im Sommer 2008 witterte der Restpostenhändler aus Offenbach ein „geiles Geschäft“. Zu gut, um es auszuschlagen. „Auf dem Flohmarkt sprachen mich ein paar Jungs an. Sie wollten mir Markenparfums verkaufen. 8 Euro pro Flasche. Ein Wahnsinnspreis.“ Er bestellte 1.000 Stück, verkaufte sie übers Internet. „Es war keine Rechnung dabei, da bekam ich erste Zweifel.“

Aber die Kasse klingelte. Schnell schob Fink die Bedenken beiseite. Er bestellte noch mehr, verkaufte das vermeintliche Markenparfum auch an andere Händler. „Plötzlich standen an einem Freitagabend fünf Kripobeamte vor meiner Tür, durchsuchten mein Haus, beschlagnahmten 10.000 Euro.“ Die Parfums waren Fälschungen. Fink wanderte erneut hinter Gitter. Erst nach drei Monaten durfte er auf Kaution und unter strengen Auflagen raus. Eine Bedingung war die Teilnahme am Fußfesselprojekt. Zudem sind Flohmärkte für ihn tabu, die Mitarbeit in seiner eigenen Restpostenfirma ist ihm verboten. „Ich soll gar nicht erst in die Versuchung geraten, illegale Geschäfte zu machen.“

Die Arbeit im Betrieb bleibt nun an seiner Ehefrau Gabriela* hängen. Sie ist seit sechzehn Jahren mit Werner verheiratet. Während er im Wohnzimmer mit seiner Bewährungshelferin Jeanette Schellhaas spricht, packt Gabriela Fink im Flur einen Karton mit Kissenbezügen. Ächzend wuchtet sie das schwere Paket hoch, trägt es die kleine Treppe hinunter bis zu ihrem Auto. Ihr Mann Werner läuft ihr unsicher hinterher, bleibt an der Haustür stehen. Er kann ihr nicht helfen, weil er ihr nicht helfen darf. Gewerbliche An-und-Verkauf-Geschäfte wurden ihm gerichtlich verboten. „Es ist trotzdem ein Scheißgefühl, ich würde ihr so gern helfen“, sagt er kopfschüttelnd.

Box im Schlafzimmer

Werner Fink hat einen strengen Tagesplan. Minutengenau steht dort, wann er zu Hause sein muss und wann er nicht dort sein darf. Eine schwarze Box in seinem Schlafzimmer schlägt sofort Alarm, wenn sich Fink nicht an den Plan hält. In einem Radius von etwa zwanzig Metern empfängt die Box Funkwellen von der Fußfessel und gleicht sie mit dem gespeicherten Tagesplan ab. So wird das eigene Zuhause zum Teilzeitgefängnis, in dem man sich nur zu vorgegebenen Zeiten aufhalten darf. Hält man sich nicht an den Plan, schlägt die Box Alarm und informiert die Zentrale in Frankfurt. Kurz darauf klingelt dann das Handy des Teilnehmers. Bei Verspätungen von mehr als dreißig Minuten geht eine Meldung an den zuständigen Richter.

„Aber Herr Fink ist sehr zuverlässig“, sagt seine Bewährungshelferin, die ihn jede Woche zu Hause besucht, um den „sozialen Empfangsraum“ zu überprüfen und Probleme zu besprechen. Doch bei den beiden wirkt es eher wie ein gemütlicher Kaffeeplausch unter Bekannten. „Das ist nicht immer so“, sagt Schellhaas. Die zierliche 45-Jährige betreut neun Fußgefesselte. Nicht jeder von ihnen wohnt in einem schicken Einfamilienhaus wie Werner Fink. Sie erinnert sich an eine „Junkiebude“ direkt über einer Kneipe. Zwielichtige Gestalten drückten sich in dem Hausflur herum, „der Mann lief aber prima an der Fessel“. Erst einmal musste sie einen Teilnehmer aus dem Projekt nehmen, einen 16-jährigen. „Der Knilch hat sich einfach gar nichts sagen lassen.“

Seit neun Jahren geben Gerichte in Hessen verurteilten Straftätern eine letzte Bewährungschance

„Geregelte Tagesabläufe sind für viele Fußgefesselte Neuland“, sagt Amthor, „die meisten Straftäter haben gebrochene Biografien, gehören zu den Verlierertypen, die noch nie etwas zu Ende gebracht haben.“ Fußgefesselte, die keinen Job haben, leisten Sozialstunden, damit sie am Tag beschäftigt sind. Nachts müssen alle Teilnehmer zu Hause sein. Nur wer gut mitarbeitet, darf auf Ausnahmen hoffen. Fink arbeitet gut mit, doch auch er ist schon in Bedrängnis geraten. Staus auf der Autobahn oder Überstunden bei seiner Arbeit in einem Umbaubetrieb brachten ihn in Zeitnot. „Aber Herr Fink ruft an, bevor wir anrufen“, sagt Schellhaas. Die Plastikschnalle an seinem Fuß stört Fink wenig. „Ich fühle mich nicht gefesselt“, sagt er. Nur das ständige Warten, der stetige Blick auf die Uhr nervt ihn.

Seinen Wochenplan kennt Werner Fink auswendig, ebenso den Radius, in dem der Sender an seinem Fuß noch Empfang zur Box hat. „Ich darf bis ans Ende der Haustreppe gehen und auf die Terrasse.“ Weiter weg hat er sich noch nicht getraut. „Mir ist das peinlich, wenn die Leute aus Frankfurt anrufen. Das törnt mich ab.“ Plötzlich schrillt es laut im Schlafzimmer. Seine Frau kommt ins Wohnzimmer gerannt. Doch Werner Fink lächelt. Erwartungsvoll nimmt er sein Handy und wippt es in der Hand. „Ein paar Sekunden noch“, sagt er. Ring, ring, ring. Aus dem Telefon dröhnt eine Männerstimme. „Nein, ich bin zu Hause“, sagt Fink ruhig, „wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie meine Bewährungshelferin.“ Er reicht ihr das Handy und berührt seinen Unterschenkel, als wollte er fühlen, ob die Fessel noch da ist. Schellhaas klärt das Missverständnis auf. Der Plan wurde vor einigen Tagen geändert. „Die Zentrale hatte den neuen Plan wohl noch nicht gespeichert.“

Ein bisschen unschuldig

Obwohl Werner Fink zuverlässig ist, einen festen Arbeitsvertrag hat und eine gute Sozialprognose, wird es knapp werden für ihn. Zu oft hat er die gleichen Fehler gemacht, zu oft vertraute er dubiosen Anbietern. „Ich bin ein bisschen unschuldig. Beim nächsten Mal klopfe ich meine Geschäfte besser ab“, sagt er schmunzelnd und beißt kraftvoll in einen saftgrünen Apfel. „Die Finger sollen sie davon lassen“, sagt Schellhaas aufgeregt. Fink lächelt und kaut genüsslich. „Wir leben davon, und wir leben gut davon.“ Dass der Preis dafür hoch ist, weiß er. Zu hoch? Werner Fink bleibt eine Antwort schuldig.

*Name geändert