Behinderte in Argentinien: Herr Wainerman kommt nicht durch

Rollstuhlfahrer Julio Wainerman und rund drei Millionen Behinderte in Argentinien kämpfen mit Bordsteinkanten, Schlaglöchern – und der Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen.

Auf den Straßen von Buenos Aires ist für Behinderte kein Durchkommen. Bild: dpa

BUENOS AIRES taz | "Diese Rampe ist zu steil." Mit der flachen Hand deutet er die richtige Schräge an. "So müsste sie sein." Julio Wainerman wartet im Hausflur auf das Taxi. Eine zweite Rampe auf den Bürgersteig hinaus hat ihm die Hausverwaltung verweigert. "Da müsste ich einen Prozess führen. Den würde ich gewinnen. Dann hätte ich eine zweite Rampe und viele Feinde im Haus." Der Rechtsanwalt Julio Wainerman kennt sich aus. "Die Menschen in Buenos Aires sind wenig rücksichtsvoll, aber nicht nur gegen Behinderte, sondern auch gegen Alte und Schwangere."

Schon sehr lange wohnt er in dem vierzehnstöckigen Gebäude an der Avenida Corrientes, einer der wichtigsten Verkehrsstraßen, die ins Zentrum des Zwölf-Millionen-Großraumes Buenos Aires führen. "Fünfundfünfzig Jahre meines Lebens kam ich gut und selbstständig zurecht." Das Post-Polio-Syndrom hat ihm die Muskeln schrumpfen lassen. "Die Nervenbahnen wirken nicht mehr richtig zusammen." Als zweijähriges Kind hatte er eine Kinderlähmung überstanden und sich normal entwickelt. Im Alter hat ihn die Krankheit eingeholt. "Nicht auf einen Schlag, nur jeden Tag ein bisschen mehr." Vor zwei Jahren hat sie ihn in den Rollstuhl gezwungen.

Der heute 65-Jährige kennt Vorher und Nachher. Seit er auf den Rollstuhl angewiesen ist, stellt er fest, wie behindertenungerecht die argentinische Hauptstadt ist und auch die Gesellschaft. "Argentinien hatte keine richtigen Kriege, die das Land zum Lernen gezwungen hätten, mit kriegsgeschädigten Menschen umzugehen." Eine harte Aussage, aber ohne Zynismus in der Stimme. "In Argentinien gibt es keine Diskriminierung von Behinderten, es gibt nur Gleichgültigkeit." Jetzt klingt er zornig, vielleicht aber auch, weil das Taxi sich verspätet hat. Mithilfe seiner Frau überwindet er die Schwelle zum Bürgersteig, rollt zum Fahrzeug und hievt sich in den Wagen. Die Taxifahrten kommen ihn teurer. "Behindertsein in Argentinien ist ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann." Die Ironie ist deutlich zu hören.

Mit dem Taxi zur Arbeit zu fahren, ist in Argentinien auch für wohlhabende Behinderte keine Selbstverständlichkeit. Das seit Jahrzehnten krisengeschüttelte Land erlebte 2001 seine bis dahin tiefste Wirtschaftskrise. Als die Talsohle erreicht war, befanden sich rund 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze - etwa 12 Millionen Menschen. Ein großer Teil der argentinischen Mittelschicht war verschwunden, abgerutscht in die Armut.

Die Armutsgrenze bemisst sich nach dem Wert eines Warenkorbs mit dem Notwendigsten fürs tägliche Überleben. Eine vierköpfige Familie muss demnach über ein Einkommen von knapp 250 Euro pro Monat verfügen. Die darunterliegen, gelten offiziell als arm. Die staatliche Sozialhilfe für einen Familienvorstand liegt bei knapp 150 Euro im Monat, dazu kommt noch eine geringe Unterstützung für Babys und Kleinkinder.

Zwar hat sich die Wirtschaft am Río de la Plata erholt und die Zahl der Armen ist zurückgegangen. Die Wirtschaft ist jedoch weiter tief gespalten in einen formellen und informellen Bereich: Von allen wirtschaftlichen Aktivitäten in Argentinien werden je nach Schätzung nur 60 bis 70 Prozent statistisch und auch steuerlich erfasst. Alles andere - immerhin etwa 30 bis 40 Prozent - ist schwarz: Produktion, Arbeit, Handel, Umsatz, Gewinne, Löhne. Dumpinglöhne sind die Regel und nicht die Ausnahme, Sozialversicherungen sind in diesem Bereich unbekannt.

Das Taxi kommt im morgendlichen Berufsverkehr erstaunlich schnell voran. Die Fahrt zur Arbeit wäre mit dem öffentlichen, allerdings privaten Nahverkehr nicht möglich. Zwar verfügt die argentinische Hauptstadt über ein U-Bahn-Netz mit fünf Linien. Aber nur in einigen der neueren Bahnhöfe der ausgebauten Strecken gibt es rollstuhlgerechte Zugänge mit Fahrstühlen oder Treppenliften. In den älteren Bahnhöfen kommen Fußgänger in den engen Labyrinthen zu Stoßzeiten kaum voran.

Und mit dem Bus? Nach dem Gesetz müssen alle Busse über eine Rampe oder über ein niedriges Einstiegsniveau verfügen. Eine Maßnahme, die auch älteren Menschen und kinderwagenschiebenden Eltern zugute käme. Und tatsächlich lassen einige Busunternehmen entsprechende Fahrzeuge auf ihren Linien fahren. Doch der Großteil der privaten Busunternehmen weigert sich - "zu teuer" -, ihre Flotten umzurüsten. Jedes Jahr beantragen sie eine Ausnahmegenehmigung für ihre alten, behindertenunfreudlichen und lärmenden Rußschleudern. Und jedes Jahr wird sie bewilligt.

Die Stadt Buenos Aires hat das ehrgeizige Programm, das Straßenüberqueren im Rollstuhl zu erleichtern. Kleine Bautrupps ziehen seit einigen Jahren durch die Stadt und arbeiten sich Ecke für Ecke voran. Der Erfolg ist sichtbar und damit auch der Misserfolg. Denn hinter und vor den Abschrägungen der Bordsteinkanten sieht es oft trostlos aus: Holprige Gehwege, gebrochene Platten, die teilweise gar nicht vorhanden sind. Auf den Straßen schauen Autofahrer nicht nur auf den fließenden Verkehr, sondern halten die Augen auf für das mit Sicherheit kommende Schlagloch. Hier herrscht Gleichberechtigung: Unter dem jämmerlichen Zustand von Gehwegen und Straßen leiden alle.

Das Taxi hält vor dem Palais de Glace im Stadtteil La Recoleta. In dem 1910 gebauten Gebäude befand sich ursprünglich eine künstliche Eislaufbahn. Danach diente es lange als Ballsaal für den aufkommenden Tango.

Heute ist es unter anderem ein beliebter Ausstellungs- und Veranstaltungsort für Zeitgenössisches. Auch für Touristen ist das Palais de Glace ein Anziehungspunkt. Und er ist behindertenfreundlich: Rampe und Toilette, wie selbstverständlich. Aber eben doch keine Selbstverständlichkeit in einer Metropole, die über kein einziges Hotel verfügt, das von sich behaupten könnte, behindertengerecht zu sein. Spätestens in den Badezimmern beweist sich dies - auch in den noblen Fünfsternehäusern. Die große Mehrzahl der Restaurants und Kneipen sind ebenfalls in keiner Weise auf Behinderte eingestellt. Im Gegenteil: In zahllosen Lokalen sind die Toiletten im ersten Stock. Sind sie doch im Erdgeschoss, passt kein Rollstuhl durch die Tür.

Der Wachmann im Palais de Glace schiebt Julio Wainerman zu seinem Arbeitszimmer im hinteren Teil des Gebäudes. Hier hat das staatliche Kultursekretariat eine Außenstelle: die hausinterne Prüfstelle für den Umgang mit Steuergeldern und für Disziplinarmaßnahmen. Der Anwalt Wainerman ist seit zehn Jahren Chef des sechsköpfigen Teams. Damals hatte er sich auf die gerade neu geschaffene Stelle beworben. Er war noch voll mobil und wurde nicht wegen der Quote eingestellt, die auch in Argentinien die Vergabe eines bestimmten Stellenanteils an Behinderte vorschreibt.

Nach der letzten Erhebung der staatlichen Statistikbehörde Indec aus dem Jahr 2001 hatten von den rund 31 Millionen Argentiniern gut 2 Millionen eine Behinderung. Das sind rund 8 Prozent der Bevölkerung. Demnach lebt in Argentinien in jedem fünften Haushalt eine behinderte Person. Experten schätzen, dass sich an dem 8-Prozent-Anteil bis heute nichts geändert hat, auch wenn Argentinien gegenwärtig knapp mehr als 40 Millionen Einwohner zählt.

Im Jahr 2001 befanden sich von den 2 Millionen 480.000 Behinderte in einem Beschäftigungsverhältnis, 91.000 waren als arbeitslos registriert, 1,4 Millionen galten als sogenannte Inaktive. Eine Formulierung, die auf den riesigen informellen Sektor verweist. Der sich auch bemerkbar macht, wenn angegeben wird, dass nur 60 Prozent der 2 Millionen Behinderten eine Krankenversicherung haben. Vierzig Prozent, also 800.000, haben keinerlei Versicherungsschutz und sind auf die medizinische Grundversorgung des Staates angewiesen.

Dienstschluss. Julio Wainerman verlässt sein Büro, um zu seinem zweiten Arbeitsplatz zu eilen. Sein Bruder hat ihn heute abgeholt. Zwei oder gar drei Jobs zu haben, ist nicht ungewöhnlich. Oft reicht der Verdienst sonst hinten und vorne nicht. In seiner privaten Kanzlei empfängt er vom Nachmittag bis in den Abend hinein seine Mandanten. Zum Gericht geht er nicht mehr. "Unmöglich, sich in den Gebäuden im Rollstuhl zu bewegen." In Argentinien werden viele Fälle auf dem Postweg verhandelt, das kommt ihm zugute. Sollte allerdings der Fahrstuhl ausfallen, käme er nicht in seine Kanzlei. Da hilft auch keine Rampe mehr. Vierzehn Tage musste er einmal warten.

"Ich bin ein privilegierter Behinderter. Ich habe eine Familie, Brüder, ein bisschen Geld, einen Beruf und viel Mut. Ich habe Glück." Auch als Nichtbehinderter wäre Julio Wainerman sicher kein unterprivilegierter Mann in Argentinien. Wenn in den zahllosen Elendsquartieren am Rande der großen Städte ein Viertel der Gesellschaft ums tägliche Brot bangen muss, dann ist es bedauerlich, aber erklärbar, warum der gesellschaftliche Blick für die kleinen und großen Hindernisse und Bedürfnisse behinderter Menschen nicht geschärft ist.

Dennoch ist der Anwalt optimistisch: "Früher war es eine Schande, mit dem Rollstuhl auf der Straße zu erscheinen. Heute gibt es eine neue Akzeptanz. Heute spricht man auch nicht mehr von Behinderten, sondern von Personen mit lokomotorischen Einschränkungen. Es ist eine Variation der Wörter, aber sie drückt doch den langsam stattfindenden Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein aus."

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