L'État c'est moi (III): Die Stärken der Selbstbegrenzung

Serie zur Bundestagswahl. These 3: Der Staat gewinnt nichts, wenn er seine Aufgaben stetig ausweitet. Im Gegenteil: Er übernimmt sich - und wird so geschwächt.

Stark ist ein Staat dann, wenn Gemeinwohl und Individualismus sich gegenseitig steigern: Hippies in Nevada. Bild: dpa

Der starke Staat einer modernen Gesellschaft muss heute die Antwort auf die Frage finden, wie man den Kapitalismus vor sich selbst rettet. Der starke Staat hat die Aufgabe, den Kapitalismus gegen die schlechten Kapitalisten zu verteidigen, das heißt, für die Herrschaft des Leistungsprinzips, die Freiheit des Marktes und die Demokratie der Konsumenten zu sorgen. Allerdings ist der starke Staat nicht umso stärker, je tiefer er in die Wirtschaftsprozesse eingreift. Im Gegenteil schwächt er sich durch seine allgegenwärtigen regulierenden und helfenden Eingriffe.

Zwei Grundüberlegungen sind bis zum heutigen Tag entscheidend. Erstens: Der globalisierten Wirtschaft entspricht kein Weltstaat. Zweitens: Man kann nicht alle staatlichen Leistungen privatisieren. Für den unmöglichen Weltstaat gibt es liberale Ersatzformen, vor allem natürlich das Währungssystem, das Rechtssystem und das Moralsystem. Aber es gibt eben auch im Wirtschaftsleben spezifisch staatliche Leistungen, die nicht durch Privatinitiative ersetzt werden können, zum Beispiel das System der Geldregulierung. Formelhaft gesagt: Die Wirtschaft gibt Gas, der Staat bremst.

Hier kann man viel aus der jüngeren deutschen Geschichte lernen - von Bismarcks Sozialgesetzgebung bis zu Gerhard Schröders Agenda 2010: Die deutsche Sozialdemokratie hat alles verwirklicht, was am Sozialismus vernünftig war. Man kann es auch so sagen: Das Jahrhundertexperiment des Sozialismus ist gescheitert, und gleichzeitig sind alle seine vernünftigen Forderungen vom Kapitalismus selbst erfüllt worden. Die Arbeiter sind als Bürger anerkannt, die Konservativen akzeptieren den Wohlfahrtsstaat, und die meisten Linken sind Reformer geworden. Der Wohlfahrtsstaat garantiert heute Minimalstandards des Lebens als politische Rechte, nicht als Almosen. Er hat erstmals alle Menschen in die Gesellschaft eingeschlossen - das ist und bleibt eine großartige Leistung. Um sie zu bewahren, müssen wir ihn heute aber kritisieren, das heißt seine Grenzen bestimmen.

Freie Wirtschaft, selbstbestimmte Einzelne und starker Staat stehen nicht in Gegensatz zueinander, sondern sie setzen sich gegenseitig voraus. Die Funktion des Staates geht heute weit über das hinaus, was die bürgerliche Gesellschaft ihm zuschrieb, nämlich Sicherheit, Schutz des Eigentums und Schutz der persönlichen Freiheit. Politik hat die Aufgabe, die Präferenzen der Bürger zwischen privaten und öffentlichen Gütern zu balancieren.

Stark ist ein Staat dann, wenn Gemeinwohl und Individualismus sich gegenseitig steigern. Nur so kann man Freiheit organisieren. Der starke Staat stärkt den Einzelnen. Er verwirklicht das Recht und ermöglicht die Freiheit - das ist seine Würde. Deshalb ist es kindisch, gegen den Staat zu sein. Hegel hat einmal gesagt, eine halbe Philosophie führe vom Staat weg, die wahre Philosophie aber führe zum Staat hin. Man muss ihn ja nicht gleich für die Wirklichkeit der Vernunft halten, aber wer erwachsen ist, erkennt die Vernunft in der Wirklichkeit des Staates - und gerade auch des deutschen! - an.

Zugegeben, von einem solchen Verständnis des Staates sind die meisten noch weit entfernt. Aber warum ist es so schwer, die Vernunft in unserer staatlichen Wirklichkeit zu erkennen? Diese Frage lässt sich sehr klar beantworten. Das politische System ist heute der Schuttabladeplatz für alle Probleme der modernen Gesellschaft. Dadurch wird die Politik genauso überfordert wie durch die traditionelle Vorstellung, sie könne die Einheit der Sozialordnung darstellen. Ein starker Staat darf das eine so wenig akzeptieren wie das andere versprechen. Der Staat schwächt sich, wenn er seine Funktionen ausweitet. Selbstbegrenzung ist das Geheimnis der Kraft.

In fast allen westlichen Ländern erwarten die Bürger ganz selbstverständlich, dass der Staat den Finanzmarkt und den Arbeitsmarkt kontrolliert, dass er öffentliche Güter, Bildung und Gesundheit finanziert und dass er für die Steuerung der Reichtumsverteilung sorgt. Deutschland ist hier durchaus vorbildlich. Kein Zweifel also: Wir brauchen einen starken Staat. Aber wir brauchen einen sozial gezähmten Sozialstaat. Politik kann rahmen, aber nicht planen; sie kann kontrollieren, aber nicht instruieren.

Leistungsfähig ist die Politik nur dann, wenn sie sich nicht als Steuerungszentrum der Gesellschaft missversteht. Der starke Staat ist gerade nicht der universale Problemlöser. Er darf gerade nicht die Gesamtverantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen, denn damit würde er sich übernehmen. Das bedeutet aber auch umgekehrt, dass die Erwartungen, die die Menschen an die Politik richten, nur erfüllt werden können, wenn sie nicht erwarten, dass die Politik die führende Rolle in der Gesellschaft übernimmt. Ein starker Staat setzt also die Reduktion von Politik auf ihre eigentliche Funktion voraus. Im Gegensatz zum Betreuungs- und Versorgungssozialismus des Wohlfahrtsstaates, der sich nicht mehr mit dem Gemeinwohl begnügt, sondern vorsorgend das Glück seiner Bürger garantieren möchte, weiß der starke Staat, dass er zum guten Leben des Einzelnen nichts Wesentliches beitragen kann.

Im Prozess der Moderne schrumpft der beherrschte Lebensraum, in dem das Individuum eine gewisse Autarkie hat, also als Herr auftreten kann, während sich der effektive Lebensraum durch Technik und Medien enorm erweitert. Je moderner man lebt, desto größer wird die Abhängigkeit von staatlichen Versorgungsapparaturen, von Leistungen der Daseinsvorsorge. Betreuung ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr das einfache Gegenteil der Selbstständigkeit. Modernes Leben steht nämlich unter dem Motto: Je freier, desto abhängiger. Um selber mehr leisten zu können, macht man sich von fremden Leistungen abhängig. Zugang zu einer Leistung oder einer Funktion heißt immer auch Abhängigkeit von ihr. Man verzichtet auf Herrschaft, um besser steuern zu können. Abhängigkeit von staatlichen Leistungen und Spielräume der Existenz wachsen miteinander. Deshalb kann die Lösung des Problems nicht darin bestehen, einfach "weniger Staat" zu wagen. Vielmehr geht es um das rechte Verständnis des sozialen Rechtsstaats.

Die sympathischsten Vertreter des vorsorgenden Sozialstaates, Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein von der University of Chicago, propagieren heute einen "libertären Paternalismus". Das Adjektiv "libertär" soll das Erschrecken über einen selbstbewusst auftrumpfenden Paternalismus mildern. Es soll immer gewährleistet bleiben, dass die Menschen ihren eigenen Weg gehen können, auch gegen den Rat der vorsorgenden und fürsorglichen Väter. Doch der aufgeklärte, libertäre Paternalismus geht von der Überzeugung aus, dass die meisten Menschen nicht wissen, was gut für sie ist.

Dabei kann Vater Staat durchaus auf den Beifall seiner Kinder setzen, denn das Bedürfnis der Menschen, sich an den Staat anzulehnen, wächst. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird ihnen also nicht nur aufgezwungen - sie begehren ihn, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Die verwaltete Welt ist für viele eine Wunscherfüllung. Das Buch von Thaler und Sunstein heißt "Nudge" - zu Deutsch etwa: der Schubser in die richtige Richtung des aufgeklärten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit.

Der alles sehende und alles besorgende Staat entfaltet eine Tyrannei des Wohlmeinens. Wohlfahrt schließt heute nämlich eine Überwachung des Verhaltens der Bürger ein. Der Staat greift auf den ganzen Menschen zu, auf Leib und Seele. So wird der Wohlfahrtsstaat präventiv: Aus Sorge wird Vorsorge. Geholfen wird also auch denen, die nicht hilfsbedürftig sind. Seither heißt Wohlfahrt "Service".

Auch Anthony Giddens plädiert für eine Erweiterung der staatlichen Daseinsvorsorge zur Politik der positiven Wohlfahrt. Hier wird das Glück als Wert verstanden, der universalisierbar ist, und deshalb kann sich die positive Wohlfahrtspolitik als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden Einzelnen begreifen. Das ist eine schöne Paradoxie: Der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des einzelnen Bürgers. So wird Politik zum Glückszwangsangebot.

Übrigens zielt das "Schubsen" der positiven Wohlfahrt bei Giddens nicht nur auf die Benachteiligten, sondern auch auf die Erfolgreichen. Dahinter steckt eine interessante soziologische Spekulation über die Probleme und Lebensstile der Zukunft. So wie die Armen an der Ungleichheit leiden, so leiden die Reichen am "Produktivismus". Giddens träumt von einem Lebensstilpakt zwischen Arm und Reich, einem wechselseitigen Lernen, aus dem dann der sich selbst bestimmende Einzelne erwächst. Die Reichen lernen von den Armen, die Autonomie der Arbeit infrage zu stellen. Und die Armen lernen von den Reichen, die positiven Effekte der sozialen Unterschiede anzuerkennen.

Dialektik statt Illusionen

Die eigentliche philosophische Grundlegung des vorsorgenden Sozialstaates bietet aber erst John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit. Der Paternalismus des starken Staates ist gerechtfertigt, weil die Menschen vor der eigenen Willensschwäche geschützt werden müssen. Bestimmte Menschen sind dann autorisiert, in unserem Namen zu handeln und zu tun, was wir selbst tun würden, wenn wir rational denken und entscheiden könnten. Der paternalistische Staat, der ja nichts von uns als Personen wissen kann, versorgt uns dann mit den Dingen, die wir "vermutlich" wünschen - ganz unabhängig davon, was wir faktisch wünschen!

Dass der Staat weiß, was gut für uns ist, ist die große Illusion der Sozialdemokraten. Dass man diesem Paternalismus mit der Parole "Freiheit oder Sozialismus" entgegentreten kann, ist die große Illusion der Konservativen. Wir balancieren heute auf des Messers Schneide zwischen einer Freiheit, die fast niemand leben kann, und einem Sozialismus, der niemanden leben lässt. Hier gibt es keine einfache Lösung. Weder die schrecklichen Vereinfacher noch die Querdenker helfen weiter. Die Lösung ist vielmehr "dialektisch", das heißt, man muss um zwei Ecken denken. Nämlich so: Gerade derjenige, der den totalen Wohlfahrtsstaat verhindern will, muss den temperierten vorsorgenden Sozialstaat fordern. Denn nur die wohldosierte Daseinsvorsorge eines starken Staates kann das Entstehen jener sozialen Fragen verhindern, auf die der totale Wohlfahrtsstaat bisher die einzig mögliche Antwort zu sein schien.

Freiheit kann demnach nur der Sozialstaat garantieren, der Leistungen gewährt, weil wirtschaftliche Sicherheit die Bedingung realer Freiheit ist. Das ist eine Frage des Maßes, des Maßhaltens und des Augenmaßes, das den wahren Politiker kennzeichnet. Wir haben solche Politiker in Deutschland.

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