L'État c'est moi (VII): Weniger Staat, mehr Demokratie

Warum eine Rückkehr zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat weder möglich noch wünschenswert ist. Und wofür der Staat weiter gebraucht wird: als Sponsor und Partner der Bürgergesellschaft.

Paddeln für HIV-infizierte Kinder: Der Staat sollte bürgerliches Engagement unterstützen. Bild: dpa

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat in den letzten zwölf Monaten den Ruf nach dem Staat fast allenthalben wieder lauter werden lassen. Dass die Krise der Märkte schnellen und entschlossenen staatlichen Handelns bedurfte, hätten ohnehin nur Narren bestritten. Groß ist auch der Konsens, dass die Finanzmärkte schärferer Kontrolle und Regulierung bedürften. Auch als Puffer einer möglichen sozialen Krise hat sich die Bundesregierung schnell engagiert - von den erweiterten Kurzarbeiterregelungen bis zur Abwrackprämie. Aber bezeichnet die tiefste Weltwirtschaftskrise seit den Dreißigerjahren auch einen grundsätzlichen Wendepunkt im Verhältnis von Staat und Wirtschaft?

Nicht wenige sehen das Pendel zurückschwingen - zurück in den keynesianischen Wohlfahrts- und Interventionsstaat der Sechziger- und Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Demnach habe die Krise die ökonomische Doktrin, auch die "kulturelle Hegemonie" des Neoliberalismus endgültig als Irrweg entlarvt. Privatisierung, Freiheit der Märkte, überhaupt die Akzentverschiebung auf die Verantwortung des Individuums, wie sie vor 30 Jahren aus Großbritannien und den USA ihren Siegeszug angetreten haben, erscheinen manchen als ein Spuk, der endlich vertrieben werden kann. Ein tragischer Fehler wird korrigiert und der "gute alte Staat", wie er sich zwischen amerikanischem New Deal und sozialliberaler Bundesrepublik etabliert hat, wieder ins Recht gesetzt.

Manches davon wird sich wohl bewahrheiten - das Pendel schwingt aller Erfahrung nach tatsächlich hin und her. Aber zugleich wäre eine solche Sicht verkürzt und lädt zu falschen Erwartungen ein. Was kann der Staat noch (oder: wieder) leisten? Und ist ein Rücksprung in die Mitte der Siebzigerjahre möglich, überhaupt wünschenswert?

Tatsächlich waren die "guten alten Zeiten" meist gar nicht so paradiesisch. Bürokratiesucht, technokratisch verkleidetes Obrigkeitsdenken oder die Anmaßung der Machbarkeit von Dingen über die Köpfe der Menschen hinweg kennzeichnet die vermeintlich goldene Zeit des aktiven Staats in der alten Bundesrepublik. Die Zeit Willy Brandts war auch diejenige Horst Ehmkes und Georg Lebers: Gesellschaftsplanung und Autobahnbau von oben, bis in den letzten Winkel des Landes.

Zudem sind einer Rückkehr in die Siebziger fiskalischen Grenzen gesetzt. Dass die in der Staatsexpansion aufgehäuften öffentlichen Schulden die Handlungsspielräume für öffentliche Investitionen einschränken; dass der Schuldendienst von gestern die Haushalte von morgen immer mehr kannibalisiert; dass wenige Jüngere die Lasten einer wachsenden Zahl Älterer zu tragen haben - all das lässt sich nicht als neoliberales Komplott abtun. Die Krise ändert an diesen fundamentalen Bedingungen nichts; im Gegenteil: Die vermehrten Schulden der Krisenpolitik mit ihrer absehbaren Last auf die kommenden Generationen unterstreichen, dass der Weg zurück versperrt ist.

Die Krise ist nicht stark genug, um den tiefgreifenden Kultur- und Mentalitätswandel der Staatlichkeit rückgängig zu machen, der sich seit den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren vollzogen hat. "Kultur- und Mentalitätswandel", damit ist gemeint: Damals setzten sich neue Auffassungen von der Rolle des Staats durch, in der Bundesrepublik, aus historischen Gründen - NS-Diktatur! - sogar schärfer als anderswo.

Im angelsächsischen Raum kam die Staatskritik vielleicht überwiegend von "rechts"; in Deutschland war das Gegenteil der Fall. Gegen die Ehmkes und Lebers etablierte sich eine linke und liberale Kritik am allzuständigen Staat, nicht zuletzt im Kontext der "Neuen Sozialen Bewegungen" und der entstehenden grünen Partei. Vieles war gleichwohl amerikanisch inspiriert, die Praxis der Graswurzeldemokratie ebenso wie die sie begleitende Theorien wie den Kommunitarismus mit seinem Akzent auf engagierten Bürgern und horizontaler Vergemeinschaftung.

Die Zeitgeschichte deutet das inzwischen als Teil eines fundamentalen Umbruchs der westlichen Moderne, der mehr ist als ein "Pendelschwung". Die Zweifel an einer eindimensional begriffenen Aufklärung, an stets Heil bringender Technik und Wissenschaft, auch als Selbstzweifel der westlichen Moderne, gehören dazu. Es spricht nichts dafür, dass diese Wende am Ende sein könnte. Im eher skeptischen statt euphorischen Staatsverständnis der Grünen kommt das auch heute noch klar zum Ausdruck und markiert eine entscheidende kulturelle Differenz zur Sozialdemokratie und zumal zur Partei der Linken: erst die BürgerInnen, dann der Staat.

Seit den Achtzigerjahren haben andere Entwicklungen diesen Trend zu einer bürgergesellschaftlichen Kritik des Staats eher noch verstärkt: Von den mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen gegen den Staatskommunismus hat die Idee einer autonomen "Zivilgesellschaft" auch auf den Westen ausgestrahlt. Demografische, mediale und soziale Entwicklungen haben die Individualisierung befördert, damit aber auch die Frage nach dem Zusammenhalt, nach sozialer Vernetzung, nach dem "sozialen Kapital" der BürgerInnen neu aufgeworfen. Auch die umstrittene Politik der "Aktivierung", in Deutschland etwa im Kontext der "Agenda 2010", ist hier zu nennen. Denn es ging ihr um die Ermöglichung von Dynamik einer Gesellschaft, die sozial Schwächere nicht im Klientenstatus schmoren lässt und stattdessen auf "Teilhabe" und "empowerment" vertraut, um es mit zwei (zugegebenermaßen inflationierten) Leitbegriffen auszudrücken.

Der "starke Staat" lässt sich also nicht wiederherstellen - und ist aus ganz unterschiedlichen, keineswegs nur "neoliberalen" Gründen auch gar kein Ideal mehr. Die Bürgergesellschaft hat ihn herausgefordert, infrage gestellt, zur Entwaffnung gezwungen. Zusätzlich hat sich, wechselt man die Perspektive, der Staat selber entorganisiert.

Seine Gestalt ist gerade in den westlichen Demokratien Europas und Nordamerikas diffuser geworden. Die monolithische Staatlichkeit scheint in den Siebzigerjahren einen Höhepunkt überschritten zu haben. Das gilt für den Binnenraum ebenso wie für die Außengrenzen. Neue Akteure und Handlungsformen haben den klassischen Kern der repräsentativ-parlamentarischen Institutionen und Verfahren ergänzt - aber nicht ersetzt! Denn die Demokratie hat dabei überwiegend gewonnen, nicht verloren und sich als bürgergesellschaftliche Demokratie erneuert.

Und nach außen hat die Auflösung der klassischen Nationalstaatlichkeit den Staat amorpher gemacht - und eben nicht auf höheren einfach Ebenen reproduziert: Die EU ist kein Bundesstaat und die UNO keine Weltregierung. Vielmehr spielt die bürgergesellschaftliche Selbstorganisation mit den NGOs gerade auch in der internationalen Arena eine wichtigere Rolle.

Der fördernde Staat

So zeichnet sich mindestens in Umrissen ein neues Staatsverständnis ab, das auf der engen Verflechtung von Staatlichkeit und Bürgergesellschaft beruht. Dieser Wandel ist im Gange; er wird sich vermutlich fortsetzen - und wir täten gut daran, ihn weiter zu befördern.

Drei Felder können benannt werden, auf denen der Staat seine Aufgabe als Förderer der Bürgergesellschaft findet: Erstens engagiert er sich in der Förderung von Netzwerkstrukturen, von sozialen Institutionen der "horizontalen Unterstützung". Nicht alles muss der Staat selber machen - vieles kann die Bürgergesellschaft besser, weil sie weniger bevormundet, sondern Hilfe als Selbsthilfe organisiert, weil sie einen "moralischen Mehrwert" der Empathie mitbringt, über den staatliche Sozialbehörden nicht in gleicher Weise verfügen.

Das bedeutet aber keinen "Rückzug" des Staats. Er sollte vielmehr solche Netzwerke - ob es sich um Sportvereine, Bürgerinitiativen oder religiöse Aktivitäten handelt - unterstützen: durch Bereitstellung von Infrastruktur, auch von Geld; durch die Anerkennung und Erleichterung des Engagements.

Zweitens hat die staatliche Förderung der Bürgergesellschaft auch einen unmittelbar materiellen Aspekt. Sie kann den BürgerInnen Anreize geben, sich zu engagieren, also die eigene Stärke zugunsten anderer zu mobilisieren.

Auf diesem Feld ist ja auch schon einiges geschehen: von der Anerkennung ehrenamtlichen Engagements bis hin zur Förderung und rechtlichen Erleichterung von Stiftungen. Diese Debatte könnte weitergeführt werden, zum Beispiel, indem die Idee zivilgesellschaftlicher Steuern aufgegriffen würde. Die Zweckbindung eines Teils der Steuerzahlungen für soziale, gemeinschaftliche und kulturelle Aufgaben in der Bürgergesellschaft könnte die Identifikation mit diesen Aufgaben, vielleicht sogar die Zahlungsmoral, erhöhen.

Schließlich tritt der Staat immer mehr als ein Moderator der Bürgergesellschaft und ihrer Konflikte auf, statt diese Konflikte "von oben" zu entscheiden. Er wird zu einem moderierenden Staat und tritt selber als ein Partner "auf Augenhöhe" in solche Verhandlungen ein. John Keane spricht von einer "monitoring democracy", womit beides gemeint sein kann: eine bürgergesellschaftliche Wachsamkeit gegenüber den repräsentativen Institutionen und ihrer bürokratischen Umsetzung ebenso wie die Rolle des Staats als Beobachter und freundlicher Regulator basisdemokratischer Verfahren.

Auf die elementaren Schutz- und Sicherungsfunktionen des Staats müssen sich die BürgerInnen auch in Zukunft verlassen können, nicht zuletzt auf die staatliche Sicherung vor Armut und Existenzkrisen, auf die staatliche Förderung von Chancen der Teilhabe und Integration. Aber der Staat kann dabei mit der Bürgergesellschaft kooperieren, ihr Förderer, ihr Sponsor sein. Und das heißt nicht zuletzt: die Kräfte der Stärkeren in der Gesellschaft zu mobilisieren. Jenseits des alten Gegensatzes wäre er damit ein starker und schwacher Staat zugleich.

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