Die Zumutung der Elke W.

BEHINDERUNG Obwohl Elke W. in ihr Leben mit einem schwerbehinderten Kind gefunden hat, würde sie es keiner Frau empfehlen

■  Indikation: Abtreibungen nach der 12. Woche sind nur erlaubt, wenn die Schwangerschaft die seelische oder körperliche Gesundheit der Frau beeinträchtigt. Diese „medizinisch-soziale Indikation“ wird rund 3.000-mal pro Jahr gestellt, meist, wenn Fehlbildungen des Fötus erkannt worden sind. Die Zahl ist rückläufig.

■ Beratung: Union und Ärztevertreter bemühen sich seit Jahren, diese Indikation wieder einzuschränken. Am Mittwoch entscheidet der Bundestag, ob ÄrztInnen in Zukunft mit einem Bußgeld bestraft werden sollen, wenn sie Frauen nicht ausreichend beraten, in psychosoziale Beratungsstellen vermitteln und nach der Diagnose eine dreitägige Bedenkfrist einhalten. Das will der Unionsantrag des Familienpolitikers Johannes Singhammer, dem sich die FDP, namhafte SPD-Abgeordnete wie Kerstin Griese, Renate Schmidt und Andrea Nahles und christlich orientierte Grüne angeschlossen haben.

■ Gegenantrag: SPD- und Grünen-Politikerinnen bringen einen Gegenantrag ein, nach dem eine bessere Beratung stattfinden, aber die Bedenkfrist lediglich „angemessen“ sein soll. Auch die Strafandrohung fehlt, weil man ÄrztInnen in dieser schwierigen Situation nicht kriminalisieren will.

VON HEIDE OESTREICH

Jan* braucht Speed. Früher fuhr er Porsche, jetzt den Nissan 370 Z. Getunt, fast 400 Stundenkilometer schnell. Er rast durch die Straßen von Bayview, mit brüllenden Reifen driftet er durch die Kurven. Jan fährt illegale Rennen, die Polizei immer im Nacken. Jedenfalls im Computer.

Das Spiel „Need for Speed“ ist Jans Welt. Sie ist virtuell, aber das ist bei Jan vieles. Er lebt gern in Geschichten und Filmen. Die reale Welt hat für ihn einfach weniger zu bieten. Er kann dort keine Rennen fahren. Er hat nicht mal einen Führerschein. Jan ist schwerbehindert. Bei seiner Geburt wurde das viele Wasser in seinem Kopf entdeckt, das die Hirnmasse zum Teil verdrängt hat und ihn seitdem körperlich und geistig behindert. Jetzt ist Jan 26, er wohnt bei seinen Eltern und arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, wo er Kaminanzünder in Schachteln packt. Glücklich ist Jan, wenn er bei Need for Speed gewinnt.

Der „Hydrocephalus“, Jans Wasserkopf, wurde erst bei der Geburt entdeckt. „Hätten wir es früh genug gewusst, hätten wir abgetrieben“, sagt Jans Mutter. Dann wäre Jan einer dieser Fälle gewesen, über die sich am Mittwoch der Bundestag streiten wird. Kinder wie Jan sollten als Föten möglichst nicht abgetrieben werden, meint eine Gruppe von Abgeordneten um die Familienpolitiker Johannes Singhammer (Union) und Kerstin Griese (SPD). Ärzte sollen Schwangere mit einer schlechten Diagnose in Beratungsstellen vermitteln und drei Tage warten, bevor sie die endgültige Erlaubnis zur Abtreibung erteilen. Sonst droht ihnen ein Bußgeld. Dagegen wollen vor allem Frauenpolitikerinnen von SPD und Grünen, aber auch die Linkspartei Schwangere und Ärzte nicht mit Bußgelddrohungen und festgelegten Bedenkzeiten drangsalieren, sondern die Beratung verbessern.

Jans Mutter Elke ist auch für eine gute Beratung. Aber ihr wird anders, wenn sie Kerstin Griese sagen hört: „Man muss ein eindeutiges Zeichen setzen, dass eine Behinderung nicht der Grund für eine Abtreibung sein darf.“ Doch, findet sie, eine schwere Behinderung darf ein Grund für eine Abtreibung sein. Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind kann eine solche Zumutung sein, dass man es verhindern können soll. Eine Zumutung für alle, auch für das Kind.

Die Schwangerschaft mit Jan war kompliziert, mit vielen Blutungen und Krankenhausaufenthalten. Elkes Mann hatte gehört, wie oft dann schwerbehinderte Kinder geboren werden, und drängte zur Abtreibung. Wenn das stimmt, treibe ich ab, fand auch Elke. Aber ihr Arzt wiegelte ab, es gebe keine Anzeichen für eine unnormale Entwicklung. Elke glaubte dem Arzt. Ihr Mann hielt sie für „hormongesteuert“, sie fand ihren Mann „irrational“, weil sie dem Arzt traute. Alle bemühten sich um Rationalität, aber alle glaubten etwas. So kam Jan zur Welt.

Er kam gleich in eine Spezialklinik. „Die Ärzte konnten uns gar nichts sagen. Nicht, ob er wird sprechen können, nicht, ob er laufen lernen wird.“ Da saßen die Eltern nun, mit ihren Versuchen, möglichst rational zu sein. „Ich dachte nur: Scheiße. Ich war wie betäubt. Da war gar kein Gefühl“, erinnert sich Elke heute. Sie ist inzwischen fast 60, eine große kräftige Frau, die in ihrer Jugend Judo-Meisterschaften bestritten hat. Ihr hellbraun-graues Haar ist fein und noch kurz, gerade hat sie Brustkrebs und eine Chemo überstanden.

Was für ein Schicksal, denkt man unweigerlich. Elke sitzt im Café in einer mittelgroßen westdeutschen Stadt, sie wollte ihren Sohn zu Hause nicht mit einer Reporterin belästigen. Sie guckt aufmerksam und sehr ruhig aus braunen Augen. Und sagt, sie stehe dem Kritischen Rationalismus nahe. Fragen nach dem Schicksal interessieren sie nur begrenzt. Zum Glück sei sie nicht mehr gläubig, sonst bekäme sie ja jetzt ein Theodizee-Problem, sagt sie leise lächelnd: Wie kann Gott das zulassen? Sie hat den streng protestantischen Glauben ihres Vaters vor langem verlassen, sehr bewusst. Woraufhin er mit ihr brach. Elke vergleicht ihre Situation auch nicht mit anderen: „Ich glaube nicht an den Anspruch auf Gleichheit.“

Nun war ihr ungleiches, besonderes Leben besiegelt. Sie fuhr mit ihrem Mann von der Klinik nach Hause, die beiden Rationalisten. Muttergefühle? Keine. „Es war, als sei mir ein Kind zugeteilt worden.“ Im Auto sagte sie, dass sie nun ein paar Bücher bräuchten: „Wie erzieht man ein behindertes Kind?“, erinnert sich Elke. „Und dann rastete mein Mann aus.“ Wie sie derart unterkühlt mit diesem Drama umgehen könnte, brüllte er sie plötzlich an. „Da habe ich zum ersten Mal geweint.“

Elke hat Mathematik studiert und ist Programmiererin. Gewesen. Denn nach Jans Geburt war an Arbeiten nicht mehr zu denken. Es gibt viel zu tun und zu erleben mit Jan. Er wächst ihr dabei ans Herz. Und wie fest, merkt man, wenn sie nun von ihm erzählt. Lachend und stolz, wie Jan mit sieben auf ihrem Commodore 64 den Befehl LOAD „*“,8,1 eingeben und damit ein Computerspiel laden konnte. Elke spielt viel mit Jan. Brettspiele, Computerspiele, sie hat ihm mal selbst ein Tetris-Spiel programmiert. Auf dem Foto, das sie mitgebracht hat, sieht man einen sympathischen, etwas strubbeligen jungen Mann im blauen T-Shirt, der durch dicke Brillengläser verschmitzt lächelt. Aber es gibt auch anderes zu berichten. Szenen, die sie dazu bringen, heute zu sagen: Wer ein behindertes Kind nicht möchte, soll es abtreiben dürfen.

Da ist vor allem ewige Ungewissheit. Das Wasser, das in Jans Kopf immer wieder neu entsteht, wird über ein Ventil abgeleitet, in seine Bauchhöhle. Aber das Ventil kann kaputtgehen. Dann würde sich das Wasser unbemerkt ansammeln und könnte noch mehr von Jans Hirn zerstören. Dann wäre es plötzlich vorbei mit dem stotternden Sprechen, das Jan gelernt hat, oder mit dem tapsigen Gang, mit dem er ganz gut vorankommt. „Jederzeit könnte er plötzlich im Rollstuhl oder im Bett landen oder gar nicht mehr denken können. Das machte mir damals eine Wahnsinnsangst“, sagt Elke. Die trieb sie dazu, sich einen inneren Ausweg zu basteln. Darin kommt der achte Stock im Treppenhaus des Finanzamtes vor. Wenn Jan dort über das Geländer stürze, fiele er bis in den Keller und wäre ziemlich sicher tot. Heute sieht sie, aus welcher Not diese Fantasie geboren wurde. „Heute ist mir das unvorstellbar, meinem Kind etwas anzutun. Ich wusste ja aber damals nicht, wie es sich entwickelt.“

Was sich entwickelte, war das ganz normale Leben mit einem behinderten Kind – und das war oft kaum zu schultern. Der kleine Jan bekommt immer wieder starke Kopfschmerzen, übergibt sich. Manchmal bekommt er Krämpfe, nie weiß man, was genau los ist. Also ab ins Krankenhaus: Infusionen, durchwachte Nächte. Wenn sie nach Hause kommen, ist Elke manchmal so überanstrengt, dass sie sich selbst übergeben muss.

Es gibt viele solcher Szenen, in denen Elke nicht Hilfe spürt, sondern die Hilflosigkeit der anderen

Und die Hilfen? Jan soll in den Behinderten-Kindergarten. Aber er verträgt kein Essen, das nicht püriert wird. Das, meinen die BetreuerInnen, könnten sie nicht leisten. Also bleibt Jan zu Hause. Die Mutter fährt. Den großen Bruder zum Schwimmen, währenddessen mit Jan zu den Dinosauriern ins Museum, mit beiden zu McDonalds, den Jan zur Krankengymnastik, den Jan zur Ergotherapie, den Jan zum Arzt, er hat wieder Kopfschmerzen, er hat sich wieder übergeben.

Jan kommt in die Sonderschule und Elke will wieder arbeiten. Aber sie findet keine Halbtagsstelle, und im Hort kommt Jan nicht zurecht. Er bleibt zu Haus und Elke mit ihm. Als sie die Erziehungsberatung aufsucht, sagt die Beraterin: Sie können ihren Sohn auch zur Adoption freigeben. Indirekt heißt das: „Bringen Sie ihn doch in einem Heim unter.“ Es gibt so viele dieser Szenen, in denen Elke nicht Hilfe spürt, sondern nur die Hilflosigkeit der anderen.

Später geht Jan auf eine Ganztagsschule für Behinderte. Er ist 16 und in der Pubertät angekommen. Elke will arbeiten. Da ruft die Schule an: Der Junge sei verhaltensauffällig, aggressiv. Er schlage und schubse die anderen. Für die Lehrerin ist klar: Elke ist schuld. Sie macht irgendetwas falsch. Elke gibt die Arbeitspläne ein weiteres Mal auf und holt Jan nachmittags wieder nach Hause. Er wird immer aggressiver, auch gegen sich selbst. Einmal versucht er sich die Pulsadern aufzuschneiden, einmal rastet er auf der Straße aus und schlägt seine Mutter. Passanten holen die Polizei.

Jan bekommt jetzt Medikamente, die ihn ruhig machen. Es ist besser geworden. Mittlerweile arbeitet er in der Werkstatt. Er hört CDs, sieht Filme. Und er spielt exzessiv Need for Speed. Seine Mutter hat ihm eine eigene Homepage eingerichtet. Und Elkes eigenes Leben? „Ich habe nicht den Eindruck, dass ich zu Hause verkümmere.“ Sie ist im Internet sehr aktiv, arbeitet unter anderem bei Wikipedia mit, diskutiert auf hohem Niveau ethische Fragen wie die Sterbehilfe und eben auch Abtreibungen, als kritische Rationalistin.

Auch über Jans Leben spricht sie nüchtern: „So, wie es gekommen ist, war es richtig, ihn am Leben zu erhalten.“ Ein Leben, das viel in der Fantasie spielt, warum auch nicht? Im realen Leben würde Jan am liebsten Spieletester werden, bei der Firma, die Need for Speed entwickelt hat. Aber wer bekommt schon genau das Leben, was er sich wünscht?

* Namen von Redaktion geändert