Die Entbehrlichkeit des Staates

Für die Sicherheit der Bürger zu sorgen ist die einzige Legitimation staatlicher Macht. Freiheit aber ist die Abwesenheit von Obrigkeit

■ Jahrgang 1952, ist Schriftsteller und Professor für Soziologie. Bis 2000 lehrte er an den Universitäten Göttingen und Erfurt. Zum Thema veröffentlichte er unter anderem die Streitschrift „Verteidigung des Privaten“. Soeben erschien im C. H. Beck Verlag das „Buch der Laster“.

VON WOLFGANG SOFSKY

Der moderne Staat stützt sich auf fünf Säulen. Er verfügt erstens über eine bewaffnete Zwangsgewalt, mit denen er Aufstände niederschlagen, Bürgerkriege befrieden und fremden Invasoren widerstehen kann. Die Drohung mit Gewalt und Tod ist die Grundlage der Herrschaft. Sie verspricht dem Untertanen Schutz an Leib und Leben, indem sie jedem handfeste Nachteile in Aussicht stellt, falls er den Frieden bricht und die Ordnung missachtet.

Zweitens besitzen Staaten ökonomische Macht, indem sie Erträge aus Produktion und Distribution, Austausch und Konsum abschöpfen und Märkte durch Vorschriften, Verbote und Anreize regulieren. Durch Steuern und Abgaben lenken Staaten beträchtliche Anteile des Sozialproduktes aufs eigene Konto. Immerzu sind sie damit beschäftigt, ihren Machtbereich, der neben zahlreichen Diensten oft auch staatsnahe Unternehmen umfasst, auszudehnen.

Drittens kontrolliert der Staat mittels normativer Macht die Gesellschaft. Indem er die sozialen Beziehungen der Autorität des Rechts unterwirft, will er nicht nur die Ordnung sichern, sondern auch die kollektive Moral bestimmen. Solidarität ist verstaatlicht. Soziale Gruppen und Bindungen werden nach und nach aufgelöst und ihre Aufgaben an offizielle Einrichtungen übergeben. Rechtsfreie Räume sind der Obrigkeit ebenso zuwider wie unübersichtliche Netzwerke. Es ist der Staat, welcher Zugehörigkeit definiert, Integration regelt und unerwünschte Personen ausschließt. Die Gesellschaft ist für den Staat eine Quelle stetiger Unübersichtlichkeit. Unberechenbar und eigensinnig sind die Individuen, beseelt von wilden Leidenschaften, Begierden, bösen Sehnsüchten. Nur durch Dauerberatung und Dauerbetreuung, durch Disziplin und Lustverbote ist dieses unheimliche Terrain einigermaßen einzuhegen.

Um Wirtschaft und Gesellschaft im Auge zu behalten, stützt sich der Staat viertens auf eine anwachsende Informationsmacht. Der öffentliche Datenhunger ist immens. Unzählige Behörden sind damit beschäftigt, das Leben der Untertanen von der Wiege bis zur Bahre zu registrieren und zu observieren. Ohne umfassende Dokumentation kein Sozial- und kein Sicherheitsstaat. Womit einst Spitzel und Denunzianten ihr Brot verdienten, haben diverse Behörden übernommen. Mit dem fadenscheinigen Versprechen von allseitiger Bildung, Volksgesundheit und umfassender Gerechtigkeit wird jedes biografische Detail festgehalten. Und unter dem Vorwand immerwährender Gefahr überzieht der Sicherheitsapparat die Gesellschaft mit legaler Alltagsspionage.

Jedes politische Regime will Ewigkeit, und jede Macht spekuliert auf freiwillige Botmäßigkeit. Darauf zielt fünftens die ideologische Macht. Sie überformt die Herrschaft der Furcht durch ein Gewebe von Legitimationen, Hoffnungen, Bildern und Werten. Durch Propaganda, rituelle Inszenierungen und langjährige Indoktrination erlangt die Machtelite die Weihen göttlicher, natürlicher oder moralischer Rechtfertigung. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei der politische Souverän, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist. Verheißungen von Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Wachstum oder Bildung dienen dazu, Missmut zu zerstreuen und den Staatsglauben zu stärken. Das Ziel ist erreicht, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist und die Tatsachen der Herrschaft im Nebel der Proklamationen verschwinden. Sobald der öffentliche Diskurs nur die offizielle Staatsdoktrin auslegt und belanglose Kommentare politischer Klassenvertreter abfragt, bleibt die ideologische Macht unangefochten.

Erörterungen über die akute Verfassung der Staatsmacht tun gut daran, alle Aspekte staatlicher Macht im Auge zu behalten. Wirtschaftspolitische Debatten über die Regulierung der Güter-, Arbeits- oder Finanzmärkte betreffen lediglich einen Machtaspekt. Mutmaßungen über Souveränitätsverluste des Nationalstaates gegenüber globalem Handel oder internationalen Allianzen übersehen regelmäßig die Machtgewinne gegenüber den Untertanen. Befunde über die begrenzte militärische Durchschlagskraft im neuen Terrorkrieg besagen nichts über einen Machtverlust bewaffneter Verbände im eigenen Land. Und zeitweilige Wahlabstinenz verweist zwar auf eine gewisse Volksverdrossenheit, rüttelt jedoch kaum an den Grundpfeilern der demokratischen Eliteherrschaft. Beweist der kollektive Missmut nicht vielmehr, wie tief die Sehnsucht nach Vorsorge und Fürsorge in des Volkes enttäuschter Seele verwurzelt ist?

Klagen über den schwachen Staat beruhen oft auf historischer Vergesslichkeit und paternalistischen Wunschbildern. Nur in einer abgeschotteten Staatswirtschaft lässt sich ein weißer Markt vollständig lenken – und die Volkswirtschaft in den Ruin treiben. Die Reichweite administrativer Kontrolle im Prozess der schöpferischen Zerstörung war schon immer begrenzt. Weshalb mäßig bezahlte Beamte ohne persönliche Haftung die privaten Produzenten und Konsumenten an Sachverstand, Verantwortung, Leistung, Transparenz und Initiative übertreffen sollen, bleibt ein Geheimnis der politischen Propaganda. Krisen sind keine Katastrophen. Behörden können ebenso wenig für Gerechtigkeit sorgen wie Märkte. Dass aber ein Staatsmonopol dem Wettbewerb widerstreitender Firmen an Effektivität etwas voraushaben soll, kann nur behaupten, wer erhebliche Blindstellen in seinem politischen Gedächtnis aufweist.

Ähnliches gilt für die Illusion des Sicherheitsstaates. Der verschreckte Untertan sucht nicht Schutz vor dem Staat, sondern Schutz durch den Staat. Vor allen Lebensrisiken soll ihn der große Vater bewahren. Lieber lässt er seinen Schreibtisch ausspionieren und seinen Weg durch den öffentlichen Raum aufzeichnen, als auf die Wahnidee umfassender Geborgenheit zu verzichten. Der Wunsch nach Versorgung und Vertrauen durchzieht die staatsgläubige Gesellschaft und prägt ihre kulturellen Gewohnheiten zutiefst. Bei jedem Zwischenfall, jeder Misshelligkeit, jeder Unsicherheit ertönt prompt der Ruf nach der rettenden Staatshand, und zwar quer durch alle sozialen Klassen. Dem inneren Zustand der ängstlichen Gesellschaft entspricht das beliebte politische Alarmspiel. Regelmäßig sucht die Machtelite den Untertanen das rechte Fürchten lehren und ihnen im gleichen Atemzug sichere Rettung zu versprechen. Zwangsdekrete finden in der Bevölkerung prompten Applaus. Mit einer Politik der Angst ist sie stets zu beeindrucken. Dabei hat die Sicherheitspropaganda nichts anderes im Sinn, als sich Wählerstimmen zu sichern und die Exekutivmacht der Staatssicherheit auszubauen.

Die üblichen Vorkehrungen gegen staatliche Machtkonzentration sind die Teilung der Gewalten, die Beschneidung sämtlicher Machtmonopole, öffentliche Kontrolle, der freie Markt der Güter, des Geldes, des Geistes, ferner der Schutz der Privatsphäre, die ungehinderte Assoziation der Bürger, Bewegungs- und Gedankenfreiheit sowie eine Kultur des Staatsmisstrauens. Das entscheidende Gift gegen die Macht jedoch ist die Freiheit. Freiheit bedeutet Abwesenheit von Ketten und Käfigen, von Zwang und Zensur, Gängelei und Bevormundung, offener Indoktrination und leiser Manipulation. Sie wird verteidigt, indem man Übergriffen trotzt und fremder Einmischung Schranken setzt. Nur so vermag jeder Bürger sein Leben auf die ihm eigene Weise zu führen.

Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Freiheit bedeutet nicht Herrschaft der Mehrheit oder Gleichheit der Lebenschancen. Der Zustand eines politischen Gemeinwesens bemisst sich zuerst an der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor der Obrigkeit schützen. Von dem Regime einer Mehrheit, welche von den Leidenschaften der Gleichheit und Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern jedes Einzelnen durch alle Übrigen. Auch Demokratie ist politische Herrschaft. Dem Zwang der Repräsentation kann kein Untertan entgehen. Er hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Die Selbsttätigkeit des freien Bürgers ist ausgeschlossen.

Nicht Fürsorge begründet die Existenz des Staates, sondern allein die Garantie jener Rechte, welche die Person vor fremden Übergriffen schützt. Nur die Wahrung des Rechts bedarf einer Macht, welche die Handlungskraft des Individuums übersteigt. Sicherheit vor Krieg und Verbrechen ist die vornehmliche Aufgabe des Staates, und nur dieser Auftrag rechtfertigt die Existenz der Zentralmacht. Für alles andere gilt der Grundsatz: Fortschritt der Freiheit heißt Rückzug der Obrigkeit, Beschneidung staatlicher Vollmacht, Zähmung der Regelungswut, Vergesellschaftung politischer Macht, Selbsttätigkeit der Bürger. „Die Regierung“, notierte einst Henry David Thoreau, „ist ein Instrument, mit dessen Hilfe sich die Menschen endlich gegenseitig in Ruhe lassen könnten; und sie ist umso nützlicher, je mehr die Regierten von ihr in Ruhe gelassen werden. Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert.“

Nächsten Samstag: Günter Dux über die Macht des Staates in der Marktgesellschaft.

Bisher erschienen: Harald Welzer: „Die Kultur der Achtsamkeit“. Saskia Sassen: „Die Bändigung des Staates“. Norbert Bolz: „Die Stärken der Selbstbegrenzung“ www.taz.de/wahl09