Die verpasste Chance

SPORT Im letzten Jahr hatte sich Hertha um einen Imagewandel bemüht. Mit dem Abstieg in die zweite Liga droht nun das Piefige wieder Oberhand zu gewinnen. Eine Spurensuche in Berliner Stadion und Fußballkneipe

Prähistorische Erfolge: Hertha wurde am 25. Juli 1892 gegründet und nach einem Ausflugsdampfer benannt. Die bislang einzigen deutschen Meistertitel gewann der Verein im Jahre 1930 und 1931.

Das Gründungsmitglied: Als Berliner Meister zählte Hertha im Jahre 1963 zu den gesetzten Vereinen in der Fußball-Bundesliga.

Der Bundesligaskandal: Im Jahre 1971 kassiert Hertha Geld für Punkte. Die Spieler nehmen von Arminia Bielefeld einen Koffer mit 250.00 Euro an, weshalb der Verein mit hohen Geldstrafen sanktioniert wird.

Der Amateuroberligist: In den 80er-Jahren fällt Hertha tief und muss im Amateurlager vor 2.000 Zuschauern spielen.

Der Absteiger: Mit dem Abstieg ist Hertha mittlerweile zum fünften Mal abgestiegen (1968, 1982, 1990, 1997, 2010).

Wer folgt Hertha am letzten Spieltag?

15. Hannover –27 Tore, 30 Punkte16. Nürnberg –27 T., 28 P.17. Bochum –28 T., 28 P.18. Hertha –20 T., 24 P.Die Spiele der drei Abstiegskandidaten: Bochum – Hannover, Nürnberg – Köln (Samstag, 15:30 Uhr).

VON JOHANNES KOPP

Normalerweise nähern sich Fernsehteams Absteigern aus der Fußball-Bundesliga per Nahaufnahme. Die Kameraleute zoomen sich bei solchen Gelegenheiten seit eh und je an die Tränensäcke der Fans, Spieler und Clubverantwortlichen heran. Sie rücken dutzendweise Menschen ins Visier, die aufgrund des Ausgangs eines Fußballspiels völlig den Halt verlieren.

An dem Tag, an dem Hertha BSC Berlin endgültig absteigt, entscheiden sich die Macher der ARD-„Sportschau“ für einen anderen Blickwinkel. Sie setzen auf Distanz statt Nähe, um die vermeintliche Tragödie zu veranschaulichen. Auf der gezeigten Europakarte fehlt die deutsche Metropole. Berlin ist nun die einzige Hauptstadt in Europa, die keinen Erstligisten hat. Das morgige Spiel gegen den Deutschen Meister Bayern München ist bedeutungslos geworden.

Ohne die Europakarte wäre die Tragik des Abstiegs nicht so gut zu vermitteln gewesen. Denn in Berlin selbst bekommt man an diesem Tag davon nicht allzu viel mit. Dazu hätte man schon in einer dieser kleinen, rustikalen Hertha-Klausen gehen müssen, zur „Gaststätte bei Joppe“ etwa, „Zum alten Sünder“ oder ins „Bären Eck“. An dem Tag, an dem Hertha endgültig absteigt, ist die Stadt mit anderem beschäftigt. Es ist der 1. Mai, und der geplante Aufmarsch der Neonazis mobilisiert viele Menschen zum Protest. Es herrscht Alarmstufe 1. Auch am Bahnhof steht wie überall in der Stadt an jeder Ecke die Polizei. Die hier offenen Läden sind am Feiertag gut besucht. Bis auf einen – den Hertha-Fanshop. Zwei Verkäuferinnen, keine Kundschaft. „Wenn Hertha nicht im Olympiastadion spielt, ist das hier immer so“, sagt die eine.

Viele Heimatvereine

Natürlich gibt es auch Fußballinteressierte in der Stadt. In einer Kneipe im Szenebezirk Prenzlauer Berg drängen sich an diesem 1. Mai etwa 180 Menschen auf engstem Raum. Doch Herthas Sturz in die Zweitklassigkeit berührt hier keinen. Die eine Hälfte der Besucher hat sich eh für die Partie ihrer Lieblingsteams entschieden – im Keller wird das Spiel zwischen dem 1. FC Köln und dem SC Freiburg gezeigt. Die andere Hälfte verfolgt zwar ebenerdig die Konferenz mit den wechselnden Spielorten, doch als dann direkt nach dem Abpfiff in Leverkusen die Stimmung der frisch abgestiegenen Herthaner eingefangen werden soll, werden die Fernsehgeräte brüsk ausgeschaltet.

Warum keine Hertha-Fans in seine Kneipe kommen, kann Wirt Armin Wörner, ein bekennender Freiburg-Fan, nicht so recht erklären. „Irgendetwas stimmt mit dem Verein nicht“, sagt er ratlos. Wobei er schnell versichert, dass er den Abstieg der Berliner durchaus bedauere. Schließlich könne er nächste Saison seine Freiburger hier nicht mehr sehen. So geht es vielen in der Stadt: Bislang waren sie einmal pro Saison mit ihrer Lieblingsmannschaft zu Gast bei Hertha. Künftig gehen sie gar nicht mehr hin.

Zwei frustrierte mittvierziger Hertha-Fans, die auf dem Olympiagelände am Gutsmuthsweg eine der letzten Übungseinheiten ihres gestrauchelten Teams anschauen, sind nicht mehr in der Stimmung, irgendetwas zu beschönigen: „In der Stadt hast du 1,5 Millionen Zugezogene, die anderen Teams die Daumen drücken, und die Alteingesessenen können Hertha eh nicht leiden“, sagt der eine. Weshalb? „Wegen der rechten Geschichten, der Schiebereien, der dubiosen Präsidenten.“

Genug Erstligisten

Hertha umgarnt die Stadt seit Jahren. Die aktuelle Kampagne lautet „Aus Berlin. Für Berlin“. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit sucht Hertha einen „strategischen Partner“, ein in Berlin ansässiges Unternehmen, das man als langfristigen Geldgeber gewinnen möchte. Aber die „Alte Dame“ ist bis heute Single geblieben. In der Stadt hat man nicht allzu viel übrig für die Hertha. Die Kleinstadt Mönchengladbach kann auf einen besseren Zuschauerschnitt in der Bundesliga verweisen. Einer der beiden Hertha-Fans am Trainingsplatz erklärt: „Du hast hier Alba, du hast die Eisbären, du hast Kultur.“ Die unmittelbare sportliche Konkurrenz ist in der Tat groß. Neben dem Basketball- und Eishockeyverein verfügt Berlin derzeit über 79 Erstligisten in 32 Sportarten.

Birger Schmidt vom Berliner Verein für Fußballkultur „Brot und Spiele“ glaubt, dass Herthas schlechtes Standing in der Stadt zum großen Teil selbst verschuldet ist. Dem Verein fehle es seit je an Identifikationsfiguren und an großen Erfolgen, an die man sich gern zurückerinnere. Für das 11-mm-Fußballfilmfestival, das der Verein organisiert, erzählt Schmidt, habe man schnell einige historisch bedeutungsvolle Spiele der Stadtkonkurrenten Union Berlin und BFC Dynamo zur Hand gehabt. Bei Hertha BSC wurde man indes nicht fündig. Selbst die Hertha-Fans konnten nicht richtig weiterhelfen. Es hieß: „Ihr könntet höchstens das Uefa-Cup-Halbfinalspiel von 1979 gegen Roter Stern Belgrad zeigen, aber besonders doll war det ooch nicht.“

Ungeachtet dieses mangelnden Stoffs an Legendenbildung sei man bei Hertha früher immer auf große Arroganz getroffen, erzählt Schmidt. Früher? Birger Schmidt berichtet von einem nach außen hin kaum merklichen Wandel bei Hertha. Nach dem Abgang des Managers Dieter Hoeneß vergangenen Sommer sei der Verein alternativen Projekten gegenüber viel aufgeschlossener geworden. Hoeneß hatte zwischen 1997 und 2009 maßgeblich daran mitgewirkt, dass der Verein heute auf professionellen Strukturen aufbauen kann. Aber er hat den Verein autoritär, nach Gutsherrenart geführt und stets mehr Geld ausgegeben als da war. Nun ist vieles anders geworden. Schmidt sagt: „Man ist nicht mehr in der Rolle des unliebsamen Bittstellers. Stattdessen wird auf Augenhöhe miteinander gesprochen und diskutiert.“ Er fürchtet, dass die neue Kommunikationskultur durch den Abstieg schon bald wieder Schaden nehmen könnte.

Unmerklicher Wandel

Hertha wollte sich, nachdem man Dieter Hoeneß vor die Tür gesetzt hatte, von einer neuen Seite zeigen. Das Anspruchsdenken wurde eingestellt. Die sportliche Planung ordnete man strikt dem Abbau der 35-Millionen-Euro Schuldenlast unter. Der neue Stil der Bescheidenheit ließ sich mit teuren Leistungsträgern wie Marko Pantelic, Andrey Woronin und Josip Simunic nicht mehr vereinbaren. Ihren Weggang sollte der damalige Trainer Lucien Favre mit jungen unerfahrenen Spielern kompensieren. Schließlich hatte Favre ja schon in der vergangenen Saison aus einem recht jungen Team zur Überraschung aller einen Meisterschaftskandidaten geformt und der Hertha aus ungekannten Kreisen neue Anhänger beschert. Für wenige Wochen war Hertha hip. Vor dieser Saison dachte man also, dass es zu einem Mittelfeldplatz irgendwie schon reichen würde. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung.

Nicht nur wegen des Abstiegs. Denn nun stehen bei Hertha wieder diejenigen Kräfte auf den Barrikaden, die dem Verein in der Vergangenheit seinen piefigen und hochnäsigen Anstrich gaben. Bereits auf der letzten Mitgliederversammlung in November, als der Klub bereits abgeschlagen den letzten Tabellenplatz einnahm, zählte mit Heinz Troschitz ein ehemaliges Schill-Parteimitglied zu den Wortführern der Opposition, die zum Sturz der Vereinsführung aufgerufen hatte. An diesem Abend, der reichlich Realsatirisches bot, trat ein empörtes Hertha-Mitglied ans Mikrofon und rief: „Wir sind der Hauptstadtclub und wir gehören auf Platz eins!“ Und als der einstige CDU-Bürgermeisterkandidat Frank Steffel, der heute im Sportausschuss des Bundestags sitzt, im Dezember seinem Rettungsplan „Berliner, steht auf, wenn ihr Herthaner seid“ an die Vereinsführung schickte, da schien Hertha wieder unfreiwillig im Reich der Provinzpossen angekommen zu sein. „Hertha statt Böller“, lautete einer seiner zehn Vorschläge, mit dem er dem Verein über 21 Millionen Euro verschaffen wollte.

Beim letzten Heimspiel gegen Schalke 04 wandten sich auch solche Anhänger enttäuscht ab, die auf ihren Jacken Aufnäher mit Parolen wie „Hertha über alles“ oder „Kniet nieder, wenn die Hauptstadt kommt“ tragen. Dennoch werden vermutlich genau diese Fans am ehesten wiederkommen, wenn die Kapitale künftig gegen den SC Paderborn 07 oder Rot-Weiß Oberhausen antreten muss.

Die anderen werden sich allenfalls in ihrer Eckkneipe die Zeit mit der Zweiten Liga vertreiben. Armin Wörner, Wirt der Fußballkneipe im Prenzlauer Berg, spekuliert auf ein kleines Zusatzgeschäft. Bislang hatten Hertha-Begegnungen keinen Einfluss auf seinen Umsatz. „Aber jetzt“, sagt er, „kommen vielleicht auch einige Hertha-Fans zu den Montagsspielen, weil wir die dann in voller Länge zeigen können.“ Unter den Zweitligafans in der Stadt sind die Herthaner wieder eine Macht.