Am Ende geht’s ins Heim

DEMENZ Die Kriterien zur Einstufung in die Pflegeversicherung sind zu grob. Alzheimerkranke können nicht richtig erfasst werden

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes kann sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland in den nächsten 40 Jahren auf 4,5 Millionen Menschen verdoppeln. Den Annahmen nach würde sich die Zahl der Pflegebedürftigen zunächst von 2,2 Millionen im Jahr 2007 auf 2,9 Millionen im Jahr 2020 und auf etwa 3,4 Millionen im Jahr 2030 erhöhen. Die Zunahme bis 2020 würde somit 29 Prozent und bis 2030 rund 50 Prozent betragen.Ursache ist nach Angaben der Statistiker die steigende Zahl älterer Menschen. Nach einer Vorausberechnung wird die Zahl der 80-Jährigen und Älteren bis 2030 von 4,1 Millionen im Jahr 2009 auf voraussichtlich 6,4 Millionen steigen. 2050 könnte diese Altersgruppe 10,2 Millionen Menschen umfassen.Entsprechend gehen die Statistiker auch von einer steigenden Zahl von Krankenhausbehandlungen aus. So könne sich die Zahl der Behandlungen von heute 17,9 Millionen auf 19,3 Millionen im Jahr 2030 erhöhen. (epd)

BERLIN taz | Der Gutachter stellte bei der alten Dame fest, dass es „im Bereich der oberen und unteren Extremitäten keine wesentlichen Bewegungseinschränkungen“ gebe. Dass die 90-Jährige „keinen Gehstock“ brauche und „keine Inkontinenzeinlage“ trage. Es bestehe kein „Mehraufwand bei der Körperpflege, bei Ernährung und Mobilität“ notierte der Mann. Eine Höhergruppierung in die Pflegestufe II lehnte er ab.

„Ich war empört“, erzählt die Tochter. Akribisch listete sie in einem Widerspruch an die Barmer Pflegekasse auf, dass ihre alzheimerkranke Mutter jeden Abend verwirrt aus dem Haus läuft. Dass sie nachts in die Windelhose macht und diese dann auszieht, sodass jeden Morgen das Bett frisch bezogen werden muss. Erst eine Zweitgutachterin, die Frau G. daraufhin untersuchte, kam zu dem Schluss, dass die alte Dame in der Tat in die höhere Pflegestufe II müsste. „Man hätte den psychischen Zustand meiner Mutter mehr beachten sollen“, erzählt Tochter Susanne G. Ein neuer Begriff von „Pflegebedürftigkeit“, über den Experten schon seit Längerem beraten, hätte dieses Problem nicht aufkommen lassen.

Schon zu Zeiten von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte der Pflegebeirat, ein beim Ministerium angesiedeltes Expertengremium, umfangreiche Vorschläge zu einer neuen Einstufung der Pflegebedürftigkeit gemacht. Die Bundesregierung wies unlängst in einer Antwort auf eine große Anfrage der Linken auf diese „bestehenden Ansätze“ als Grundlage der Debatte hin. Jedoch müsse man eine Neuregelung hinsichtlich ihrer finanziellen Auswirkungen auf die Pflegeversicherung „überprüfen“. Die Reformvorschläge sehen vor, statt bisher drei Pflegestufen künftig fünf „Bedarfsgrade“ einzurichten. Nicht mehr so sehr der „Umfang des Hilfebedarfs“, sondern der „Grad der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ soll bewertet werden, hieß es im „Umsetzungsbericht“ zur Reform. Menschen mit Demenz sollen stärker berücksichtigt werden.

Bisher ordnen Gutachter die Pflegebedürftigen nach dem zeitlichen Umfang der benötigten Hilfe in drei Pflegestufen ein. Für Pflegestufe I beispielsweise gilt, dass die Patientin oder der Patient am Tag durchschnittlich etwa 90 Minuten Hilfe benötigt beim Waschen, Ankleiden, Toilettengang, bei Essenzubereitung und im Haushalt. In Pflegestufe II wird den Patienten ein Hilfebedarf von drei Stunden täglich zugestanden, 1.040 Euro im Monat zahlt die Versicherung dafür.

Dieses Stufensystem führt heute dazu, dass Gutachter bei körperlich noch einigermaßen fitten, aber demenzkranken Patienten nicht quantifizieren können, wie unterschiedlich der Pflegeaufwand sein kann – etwa wenn sich eine Patientin aggressiv gegenüber ihren Helfern verhält oder sich wieder auszieht, nachdem man sie beim Ankleiden unterstützt hat. „Meine Mutter hat zeitweise panische Angst vor fremden Hilfskräften“, erzählt Susanne G., „das kostet viel Zeit.“ Sie selbst wohnt weit weg und kann sich nicht täglich kümmern.

Im Reformvorschlag wird die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit in der Mobilität, bei kognitiven Fähigkeiten, durch Verhaltensweisen, psychische Problemlagen und in der Selbstversorgung nach einem Punktesystem ermittelt. Daraus ergibt sich die Einstufung in fünf Grade, nach denen sich der Umfang der Leistungen der Pflegeversicherungen bemisst. Der erste Grad erfasst auch leicht verwirrte Personen, die heute nicht in die Pflegestufe I kommen. Der fünfte Grad ist den schwerstkranken Härtefällen vorbehalten.

Vom „Paradigmenwechsel“, von einer „Aufgabe der Minutenpflege“ durch das neue System war zu Beginn optimistisch die Rede. Doch im darauf folgenden Umsetzungsbericht rechneten die Reformer Finanzierungsmodelle durch. Der Pflegebeirat räumte ein, dass ein im Vergleich zum bisherigen Verfahren „kostenneutrales“ Szenario der neuen Einteilung bedeuten würde, Verschlechterungen hinzunehmen bei „Personen, die ausschließlich oder ganz überwiegend von körperlicher Beeinträchtigung“ betroffen sind.

Auch bei einem zweiten „kostenneutralen“ Szenario würden durch das neue Verfahren Leistungen von den „höheren in die niedrigeren Abstufungen“ verschoben. Und das führe zu Widerständen. Ohne mehr Geld aus der Pflegeversicherung dürfte ein neues System also nicht durchzusetzen sein.

Das jetzige Stufensystem kann demenzkranke Patienten nicht richtig bewerten

Betroffene greifen ohnehin längst zur Selbsthilfe. Susanne G. zum Beispiel beauftragte für monatlich 1.000 Euro „Schwarzlohn“ eine Nachbarin mit der Beaufsichtigung. Diese kommt ergänzend zu den Diensten der Sozialstation, die von der Pflegeversicherung bezahlt werden. Das Geld für die Nachbarin nimmt G. vom Sparkonto ihrer demenzkranken Mutter. Es reicht noch für zehn Monate. Danach muss die alte Dame ins Heim.

BARBARA DRIBBUSCH