Die Klimalüge der AKW-Lobby

ENERGIE Gefährdet ein schneller Atomausstieg den Klimaschutz? Ja, warnt die Atomlobby. Im Gegenteil, sagen Energieexperten und Umweltschützer. Aber die Vollversorgung mit Erneuerbaren ohne Atom hat ihren Preis

Um die CO2-Emissionen deutlich zu senken, müssten 1.500 neue Reaktoren gebaut werden

VON BERNHARD PÖTTER

Durch die globale Ökoszene ging ein Aufschrei. „Nach Fukushima unterstütze ich die Atomkraft“, schrieb der angesehene britische Umweltjournalist George Monbiot im Guardian am 21. März. „Es gibt keine harmlosen Alternativen. Kohle ist hundertmal schlimmer als Atom.“ Drei Wochen nach dem Beginn des Fukushima-Unglücks denkt nicht nur George Monbiot neu über die Atomkraft nach. Deutschland plant einen schnelleren Atomausstieg, China legt seine Ausbaupläne auf Eis, andere Staaten überdenken ihre nuklearen Träume. Und unter Klimaschützern beginnt eine neue alte Debatte: Brauchen wir die Atomkraft, um das Klima zu retten?

Neben „Wirtschaftlichkeit“ und „Sicherheit“ war „Klimaschutz“ seit langem das beste Argument der Atomfans. Schon hat Joachim Pfeiffer, wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, vor dem Ausstieg gewarnt, weil die deutschen AKWs „jährlich 150 Millionen Tonnen Kohlendioxid sparen“. Die Energiekonzerne behaupten ohnehin, wie es EnBW in einer großen Anzeigenkampagne tat, ihre AKWs seien die „ungeliebten Klimaschützer“. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erklärte letzte Woche in Japan: „Die Welt braucht Atomkraft, um den Klimawandel zu bekämpfen.“ Und Fatih Birol, Chefökonom der Internationalen Energie Agentur (IEA), warnte, ein vorgezogener Ausstieg gefährde den Klimaschutz. Bis vor Fukushima erwartete die IEA den Neubau von 360 Gigawatt AKW-Leistung weltweit bis 2035. Schon eine Halbierung dieser Rate mache es noch schwerer, den Klimawandel bei 2 Grad Celsius zu stoppen.

Das Credo der Atomgemeinde: Ohne Atom gehen zwar nicht die Lichter aus, aber die Kohlekraftwerke mit ihrem hohen CO2-Ausstoß an. Dieses Argument sei zumindest für die EU falsch, sagt Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU): „Es wird keinen neues CO2-Budget für Deutschland geben.“ Schließlich liegen im europäischen Emissionshandelssystem die Obergrenzen für Treibhausgase fest. Auch ein Atomausstieg bringt nicht mehr Verschmutzungslizenzen.

Für viele Klimaschützer sind AKWs aber keine Klimaretter, denn sie lösen nicht die Energieprobleme bei Heizung und Verkehr. Bau und Betrieb erfordern enormes Kapital, ein ausgebautes Stromnetz und funktionierende staatliche Strukturen – woran es gerade in den Schwellenländern oft fehlt, die Atomprogramme für ihren Energiehunger planen. Der UN-Klimarat IPCC traut in seinem 4. Sachstandbericht 2007 der Atomkraft von 2005 bis 2030 durchaus einen Ausbau zu – allerdings nur von 16 auf 18 Prozent der globalen Stromversorgung. Um einen merkbaren Unterschied bei den CO2-Emissionen zu machen, müssten nach einer Studie der US-Universität MIT weltweit mindestens 1.500 neue 1.000-Megawatt-Reaktoren gebaut werden: fast das Vierfache der momentanen Kapazität.

Für die atomkritische US-Website Nuclear Information and Resource Service (NIRS) ist Atomkraft zu teuer und zu dreckig, um den Klimawandel zu bekämpfen. Sie zitiert Studien, nach denen „jeder Dollar für Energieeffizienz siebenmal so effizient für den Klimaschutz ist wie für Atomkraft“. Eine vermiedene Tonne CO2 koste durch Windenergie 89 Dollar, durch Atomkraft 132 Dollar. Außerdem „emittiert Kernbrennstoff deutlich mehr Klimagase als erneuerbare Energien“. Erstelle man für die Urangewinnung, die Anreicherung, den Transport und den Bau von Atomanlagen eine Klimabilanz, komme man auf 72 bis 230 Gramm CO2 pro Kilowattstunde (im durchschnittlichen europäischen Strommix aus Gas, Kohle und Atom sind es 400 Gramm), wogegen Wind- und Solaranlagen ihre Klimabelastungen in den ersten Jahren des Betriebs ausglichen.

Zudem ließ etwa die Umweltschutzorganisation Greenpeace vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) errechnen, dass bis 2050 weltweit erneuerbare Energien 95 Prozent der Stromversorgung ohne Atom übernehmen könnten. Laut Umweltbundesamt (UBA) könne Deutschland bis 2050 seinen Strom voll aus Erneuerbaren beziehen, wenn der rot-grüne Atomausstieg bis etwa 2020 wie geplant vollzogen werde. Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt die umfassende Studie „Modell Deutschland“ der Unternehmensberatung prognos und des Öko-Instituts für den Umweltverband WWF: Öko-Vollversorgung bis 2050 bei rot-grünem Atomausstieg. Und der „Sachverständigenrat für Umweltfragen“, ein Expertengremium der Bundesregierung, hat erst 2011 „Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung“ bis 2050 vorgezeichnet. Dabei, so die offiziellen Berater der Bundesregierung, sei „eine Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke nicht notwendig“, sondern kontraproduktiv: Sie schüfe Überkapazitäten, hohe volkswirtschaftliche Kosten und Risiken für Investitionen. Der gravierende Unterschied zwischen diesen Szenarien und den düsteren Prognosen etwa der IEA: Die Öko-Szenarien beschreiben einen Weg, der technisch und ökonomisch machbar ist, der aber aktives staatliches Handeln bei Investitionen oder politischen Rahmenbedingungen vorsieht. Eine Analyse der gängigen Modellrechnungen zum Thema Energiesicherheit und Atomausstieg hat kürzlich das „Potsdam Institut für Klimafolgenforschung“ (PIK) vorgelegt. Die Szenarien zeigten „eindrucksvoll, dass Klimaschutz mit einem 2-Grad-Ziel sogar bei einem globalen Ausstieg aus der Atomkraft zu eher geringen Mehrkosten möglich wäre“ – nämlich etwa 0,5 bis 1 Prozent des jährlichen Welt-Bruttosozialprodukts, bilanzieren die PIK-Experten. Ein langsamer Ausbau der Erneuerbaren erhöhe dagegen die Kosten.

Dennoch meint Brigitte Knopf, Expertin für Energiesystemanalyse am PIK und Mitautorin der Analyse: „Dass ein globaler Ausstieg aus der Kernenergie möglich ist, heißt noch nicht, dass es ein Selbstläufer wäre.“ Nötig sei ein Ausbau der Stromnetze, was auf lokalen Widerstand stößt. Außerdem könne ein Atomausstieg bedeuten, dass „verstärkt die Technologie der Kohlenstoffeinlagerung (CCS) in Verbindung mit Biomasse als Alternative eingesetzt werden müsste, eine Technologie, die auch nicht frei von Risiken und unerwünschten Nebeneffekten ist“. Knopfs Fazit: „Ohne erneuerbare Energien wird Klimaschutz nicht zu machen sein. Ohne Atomenergie schon.“