Der Alte vom Berg

IKONOGRAFIE Für die einen das Gesicht eines Massenmörders, für die anderen der Posterboy von Zorn und Rebellion – Osama bin Laden war auch ein Produkt unserer Projektionen, eine Kunstfigur

Aber einfach erschießen ist eben nicht die Gerechtigkeit, die man von einer Weltmacht der Rechtsstaatlichkeit erwartet. Da steckt ein bisschen zu viel Wilder Westen drin, auch für viele jener, die die Meldung von Osamas Ende als eine gute Nachricht betrachten

VON ROBERT MISIK

Welch eine Meldung wäre das vor sechs, sieben Jahren gewesen – „Osama bin Laden von US-Spezialeinheiten getötet“. Heute ist das selbst für Nachrichtenjunkies eine Meldung, die allenfalls mit Interesse aufgenommen wird „Ach ja, bin Laden“. Die Nachricht von seinem Tod kommt jedenfalls Jahre zu spät, als dass sie noch große Emotionen aufwühlen oder gar weltpolitische Wellen schlagen könnte. Einerseits.

Andererseits war Osama bin Laden die erste ikonografische Figur des neuen Millenniums. Er war eine Ikone: der Mann mit Turban und dem langen Zauselbart, der der Weltmacht USA und dem Westen den Kampf ansagt. Ikone des Bösen für die einen. Das Gesicht eines Massenmörders. Immerhin hat al-Qaida, deren Gesicht er ja war, die ikonografischen Bilder schlechthin des vergangenen Jahrzehnts produziert: die Bilder der Flugzeuge, die in die World-Trade-Center-Türme jagen; die Bilder der brennenden Türme; der Menschen, die hunderte Stockwerke tief in den Tod springen; der einstürzenden Hochbauten. Diese Bilder von den brennenden Glas-Stahl-Beton-Türmen sind für immer mit dem Bild von dem hageren, zottelbärtigen Mann verbunden.

Und so war er von Beginn an mindestens so sehr wie er eine reale Person und der tatsächliche Führer eines Terrornetzwerkes war auch ein Mysterium, Produkt unserer Projektionen, eine Kunstfigur.

Seine bizarren Videobotschaften, in denen bin Laden bizarre religiös-politische Erweckungspredigten hielt, im Schneidersitz, den Turban auf dem Kopf, die Kalaschnikow in der Hand, sie lieferten das Material für diese Projektionen. Der Typus, der hier zu besichtigen war: der Alte vom Berg. Der seltsam rabulistische Botschaften auf Band sprach, die man erst entschlüsseln musste. Einer, der sich immer auch ein bisschen als Wiedergänger des Propheten inszenierte, als spielte er das Arabien des 7. Jahrhunderts nach. Freilich mit Hilfe von Satellitentelefon und Internet. Ein Entrückter.

Er war nicht der Erste, der etwas versimpelten Antiimperialismus mit einer islamisch-religiösen regressiven Utopie verrührte, aber er war der Erste, der damit globale Bedeutung erlangte. Im Grunde beruhte sie auf vier Postulaten. Erstens: Die islamische Welt wird vom Westen, den Ungläubigen, unterdrückt, ausgesaugt. Zweitens: Die islamische Welt ist selbst korrumpiert. Drittens: Eure Welt, also die Welt der Ungläubigen und derer, die ihnen auf den Leim gehen, ist niedrig. Viertens: Die islamische Idealgesellschaft ist die, die der Prophet Mohammed vor 1.300 Jahren errichtet hatte.

In den Milieus entwurzelter junger Muslime von Islamabad bis Neukölln wurde er zeitweise zum Helden, aber auch in diesem Fall ist es eher so: Sie selbst projizierten ihr Gefühl, zurückgesetzt zu sein, auf Osama bin Laden. Und so war er für die einen die Ikone des Bösen und für die anderen Posterboy von Zorn und Rebellion. Sein Gesicht wurde zum Signifikanten, der zunehmend leer wurde und von jedem nach Wunsch gefüllt werden konnte.

Solche Projektionen haben ihre reale Wirklichkeit, man wird ihnen nicht Herr, indem man darauf hinweist, wieweit sie Imagination sind. Denn oftmals ist nichts realer als die Imagination. Aber ebenso wahr ist, dass so starke Emotionen, wenn sie vornehmlich auf Projektionen beruhen, ihr Verfallsdatum schon in sich eingeschrieben haben.

Seit Jahren hat man von Osama bin Laden nur mehr fallweise gehört, und wenn mal wieder eine Audiobotschaft von ihm auftauchte, dann legten deswegen die Analyseabteilungen der Geheimdienste wohl keine Nachtschicht mehr ein. In seiner Al-Qaida-Organisation hatte ihm der biedere Doktor Aiman al-Sawahiri längst den Rang abgelaufen. Aber die Organisation selbst war eher mehr ein Label geworden, dessen Wortführer keinen großen Einfluss mehr hatten. Al-Qaida wurde zu einem Franchise-Unternehmen, bei dem jede lokale Terrorgruppe oder -zelle ihr Ding machte. Schaffte sie es, irgendwo eine Bombe hochgehen zu lassen – wie gerade eben wieder in Marokko –, dann wurde das, wie es in der Sprache der Nachrichtenagenturen heißt, „al-Qaida zugerechnet“. Aber auch die Popularität der Dschihadisten hat gelitten: Dass die Terrorsekte hauptsächlich Muslime in die Luft jagte und ethnischen oder religiösen Zwist säte und unschuldige Zivilisten tötete, trug ihr selbst unter fundamentalistischen Muslimen mehr und mehr Gegner ein. Und sie reagierte darauf wiederum, wie das bei allen extremistischen Sektierern der Fall ist, mit aggressiver Feinderklärung gegen alle und jeden.

Kurzum: Osama bin Laden war unwichtig geworden. Mehr noch: Jeder wusste das.

Die Zeit, als man in ihm einen sah, der „mit dem Westen im Krieg steht“, ist lange vorbei. Er war nicht vollends vergessen, aber doch eher einer, der einmal Verbrechen begangen hat und nach dem deshalb immer noch gesucht wurde.

Mulmiges Gefühl

Sodass die Special-Forces-Operation, die nun zu seinem Tod führte, bei nicht wenigen Menschen im Westen ein etwas mulmiges Gefühl auslöst. Nein, nicht dass man seinen Tod beweinen muss. Aber dass US-Präsident Barack Obama sagt, „der Gerechtigkeit wurde Genüge getan“, hat doch auch einen eigentümlichen Zungenschlag. Hätte er gesagt: „Beim Versuch, ihn festzunehmen, wurde bin Laden bei einem Feuergefecht getötet“ – okay. Aber einfach erschießen ist eben nicht die Gerechtigkeit, die man von einer Weltmacht der Rechtsstaatlichkeit erwartet. Da steckt ein bisschen zu viel Wilder Westen drin, auch für viele jener, die die Meldung von Osamas Ende als eine gute Nachricht betrachten. Und wenn’s schon praktisch nicht anders geht, soll man wenigstens die richtigen Worte finden.

Aber woher kommt dieses zwiespältige Gefühl? Der Grund ist eben, dass Osama bin Laden schon lange nicht mehr als der brandgefährliche Weltfeind Nummer 1 angesehen wurde, ja nicht einmal mehr als der Alte vom Berg, sondern eher als der Alte hinterm Berg.

Als Faszinosum hatte er ausgedient. Aber als er noch Faszinosum war, was war das eigentlich, das uns an dieser Figur auch elektrisiert hat? Womöglich war das weniger die Faszination des Bösen, diese Angstlust, mit der man elementare Gewalt – wie die des 11. September – auch zu betrachten pflegt. Womöglich war bin Laden auch so eine Figur, die uns zeitweilig so interessant vorkam, weil er auf so unbegreifliche Weise anders war, in einer Zeit, in der alles immer ähnlicher wird. Er war die Gegenfigur zur Ausbreitung der globalen Moderne, das letzte Außen. Und ein wenig sah man auf ihn wie auf den Yogi oder den Guru, der eine ganz andere Logik oder noch besser, der gar keine Logik verkörperte in einer Welt voller Logik. Er war, als einer, der sich im Schneidersitz in die Höhle setzt und wirres Zeug murmelt, auch eine existenzialistische Verstörung.